Schönbrunn Gloriette

Skuld – Wiener Geschichte

Seltsam mutet es an, wenn ich von jener Parkbank neben der Gloriette über den barocken Schloßpark auf meine Heimatstadt Wien blicke und meine, daß sie sich über die Jahre hinweg nicht verändert hat. Wie in einen Dornröschenschlaf glaube ich sie dann gefallen und weiß doch, daß dieser Gedanke nur einer verspielten Träumerei entspringt. Wunderbar ist der Ausblick an heißen Sommertagen, wenn unter einem wolkenlosen, blauen Himmel inmitten tausendfachem Funkeln das bunte Dächermeer erstrahlt und diese Farbgewalt die Vielfältigkeit der Stadt preisgibt, Lebendigkeit und reges Treiben verrät. Doch nicht minder atemberaubend ist die Schönheit, die sich im tiefsten Winter den Augen offenbart; wenn sanft der Schnee vom Himmel auf die Stadt treibt und sie in eine beinahe heilige Stille bettet. Und unverrückbar und fast so, als wäre er ihr als Wächter zur Seite gestellt worden, der Kahlenberg sich dunkel am Horizont abzeichnet. Hier auf dieser Bank vor dem dreibogigen Triumphtor mit seinen weitläufigen Stiegenaufgängen zu beiden Seiten, hier auf dieser Bank vor dem über zwei Jahrhunderte altem Gemäuer nahm mein eigentliches Denken seinen Anfang, jenes Denken und Handeln, daß meiner tiefsten Überzeugung entspringt und nicht bloß der stetig gleichlaufenden Mechanik einer Abwehrreaktion entweicht, unbedacht und vorschnell, ohne Begründung und nur für den Augenblick.

An diesem Ort begann der Weg, an dessen Anfang ich eine morsche Hülle von mir striff und eine neue Persönlichkeit entschlüpfte, eine Persönlichkeit, die mit der Zeit zu reifen begann und konkrete Formen annahm, in deren neu erlangter Sicherheit Eckpfeiler weltlicher Anschauung überhaupt und moralischem Verständnis im Besonderen aufgestellt wurden. Hier war die Geburtsstätte jener Eigenständigkeit, die mich heute sicher und ruhig durch das Leben gleiten und doch niemals auf Kritik vergessen läßt, begann mit dem Bewußtwerden jener Moral auch die Verantwortung zu erblühen, die mein Gewissen als den unerbittlichsten Richter hervorbrachte und dessen Unmut ich wie nichts anderes fürchte. Hunderte von Menschen mögen Jahr für Jahr auf dieser Bank Platz genommen und die Aussicht genossen haben, aber für niemanden wird sie jene schicksalshafte Bedeutung haben wie für mich. Denn es erscheint mir, als hätte auf ihr mein Leben begonnen, als würden nicht vom Mutterschoß, sondern erst von ihr meine Fußstapfen in diese Welt führen. Lange schon ist es her, daß meine eigentliche Geschichte hier begann und bezeichnenderweise war es an einem sonnigwarmen Frühlingsvormittag.

Ich zählte kaum zwanzig Jahre und bewohnte in der Nähe des Schloßparkes Schönbrunn eine aus zwei kleinen Räumen und einem Verbindungzimmer bestehende Wohnung im ersten Stock. Das Haus war in der Zwischenkriegszeit erbaut worden und stets erfuhr meine Stimmung eine Dämpfung, wenn ich auf den grauen Flur trat, denn Trostlosigkeit und Kahlheit durchzogen die Gänge. Es schien, als wäre das Haus mit den Jahren müde und des Lebens überdrüssig geworden. Kabel hingen weit von der Decke herab, von den Wänden blätterte der Verputz und manche Stufen der geschwungenen Steintreppe waren beschädigt, so daß man sie überspringen mußte. In jedem Stockwerk rostete vergessen eine alte Bassena vor sich hin, einige Holztüren, die vormals den Zweck einer Abstellkammer erfüllten, waren eingetreten und zeigten Berge von Schutt und Müll. Die Luft war kühl und abgestanden und nur um die Mittagszeit strömten verschiedenste Gerüche von frisch zubereiteten Speisen aus den Türen, die zumeist Übelkeit in mir hervorrief. Die Wohnungen dieses Hauses waren, von mir und einigen leerstehenden abgesehen, allesamt von alten Menschen bewohnt, die sich jedoch kaum blicken ließen. Trotzdem der Zins nicht sonderlich viel betrug, weigerten sich die Jungen doch, in solch ein düsteres Haus zu ziehen; stießen sie Wanzen und Asseln ab, die in den Gängen lebten, die brüchigen, von Rissen durchzogenen Wände der Wohnungen oder einfach die überall nistende Trostlosigkeit, die manch sensiblerem Menschen ohne Zweifel mit der Zeit übel zugesetzt hätte. Das erste Zimmer war meine Küche; eingerichtet mit Herd und Spüle, einem großen Tisch und einem schäbigen, alten Holzkasten, in dem sich Geschirr und einige Konserven befanden.

Durch das schmale Verbindungszimmer gelangte man in das Wohnzimmer. Hier standen gegenüber einem alten Holzbett zwei weitere Kästen, in denen meine Kleider und einige Habseligkeiten lagen. Einen großen Tisch hatte ich mir zum Fenster gestellt. Daneben standen zwei Stühle, von denen einer mir, da ich kaum Besuch hatte, zumeist dazu diente, meine Füße hochzulegen und in solch einer entspannenden Lage ein Buch zu lesen oder, was ebenso selten wie Besuch vorkam, einen Brief an meine Eltern zu schreiben. Sie liebten es, Briefe zu erhalten und da niemand sonst ihnen diese Freude bereitete, erbarmte ich mich alle zwei Monate und schrieb ihnen seufzend ein paar belanglose Zeilen. Auf dem Tisch lagen einige Bücher (ich verschlang zu dieser Zeit Spukgeschichten aller Art), eine Vielzahl von Stiften, Taschentücher, einige Hefte und alte Zeitungen. Ich glaube mich auch daran zu erinnern, daß am Rande des Tisches die geschnitzte Statue eines kleinen Engels stand, doch mag ich hier vielleicht irren. Eine schmutziggelbe Tapete, die an manchen Stellen eingerissen war, verlieh dem Zimmer etwas Unwohliges und in den Ecken zog sich langsam der Schimmel zur Decke hoch. Jeder andere hätte wohl angesichts dieser Schäbigkeit, diesem Verfall entsetzt die Hände vor dem Gesicht zusammengeschlagen, doch ich nahm sie gleichgültig hin, froh darüber, eine Wohnung mein eigen nennen zu können. An meinem neunzehnten Geburtstag war ich in diese Wohnung gezogen, zwei Wochen, nachdem ich die Schule verlassen und die Entscheidung gefällt hatte, meinen Lebensunterhalt von nun an selbst zu verdienen.

Er setzte sich an den kleinen Tisch in der Ecke Platz und nahm gedanken versunken einen kräftigen Schluck Kaffee. Verwundert hielt er das Glas von sich und blickte hinein. Dunkel glich die Oberfläche das leichte Zittern seiner Hand aus.
„Hast du gestern neuen Kaffee gekauft“ fragte er, ohne den Blick abzuwenden. Seine Frau, die ihm gegenüber saß, verneinte.
„Hm … eigenartig. Er schmeckt nach nichts. Und zudem ist er kalt.“
Er führte das Glas näher an sein Gesicht, seine Nasenspitze berührte leicht den Rand. „Ich glaube, dass er kalt ist.“
Seine Frau sah ihn erstaunt an.
„Was heißt, du glaubst, dass er kalt ist? Das wirst du doch fühlen. Aber
ich kann dir versichern, dass ich ihn eben gekocht habe.“
Steiner stellte das Glas auf den Tisch. Mit einer abwinkenden Handbewegung, so, als wolle er etwas unerklärbarem nicht weiter nachspüren, fuhr er fort: „Ich werde heute ein wenig früher gehen.“

„Viel Glück heute beim Gespräch. Ich werde die Wohnung noch zusammenräumen, dann besuche ich Mutter. Sie wartet immer noch auf unsere Einladung. Herbert, auch wenn sie dir nicht besonders gut gesinnt ist, so bleibt sie doch meine Mutter. Du darfst sie nicht ausschließen. Wir sollten sie nun endlich wieder einmal einladen. Dann hättest du wieder für lange Zeit Ruhe.“
Herbert Steiner seufzte laut auf. Sein Frau überhörte dies und schlug ihm vor, sie kommenden Sonntag zum Mittagessen einzuladen.
„Jetzt zieht sich euer Streit schon Jahre hin. Warum denkt ihr beide nicht einmal an mich? Ich leide unter dieser Situation. Es wäre mir …“
Die Erinnerung an ihre Mutter schien eine alte Wunde wieder aufgestochen zu haben und nun flossen ihr die Worte wie ein reißender Strom aus dem Munde. Doch Steiner nahm sie immer verzerrter wahr, bis sie sich in nur noch zwei Tönen verwandelt hatten. Einem hohen, der seine Aufmerksamkeit für einen Augenblick streifte. Und einem tiefen, dumpfen, der ihm die Stimme seiner Frau immer fremder erschienen ließ. Dieses seltsame Gefühl des Unbehagens wurde indes immer intensiver. Steiner überlegte, ob es vielleicht Angst vor dem kommenden Gespräches war. Deutlich zeichnete sein Geist das Bild des Geschäftsführers.

Er würzte dieses mit der Bedeutung des heute stattfindenden Gespräches. Doch konnte er kein Anzeichen von Nervosität in ihm erkennen. Nein, diese Unterredung trug keineswegs Schuld an jener Angst, die ihn erfüllte.
„… und auch dir würde das gefallen. Herbert? Herbert?“
Seine Frau beugte sich vor und schüttelte ihn sanft an der Schulter.
„Herbert? Fühlst du dich nicht wohl?“
Er sah sie erstaunt an. Dann fiel ihm die begonnene Unterhaltung über ihre Mutter ein.
„Ja, dann lade sie ein“ versuchte er ihren kritischen Blick zu entkräften.
„Hast du mir überhaupt zugehört?“
„Aber sicher. Und ich finde auch, dass wir sie am Sonntag einladen sollten.“
„Ich habe dir aber gerade erzählt, dass ich vergessen hatte, das sie Freitag für eine Woche auf Kur nach Salzburg fährt.“
Peinlich berührt sah Steiner zur Seite. Mit beleidigter Miene stand seine Frau auf und begann wortlos, den Tisch abzuräumen. Er betrachtete ihren schmalen, kinderlos gebliebenen Körper, der nun schon seit fast dreißig Jahren an seiner Seite war. Doch jede ihrer Bewegungen war ihm fremd. Er verspürte auf einmal den Wunsch, diesen Ort so schnell als möglich zu verlassen. Hastig stand er auf und verließ die Küche. Er schlupfte in seinen langen, beigen Mantel, setzte seinen Hut auf und verließ grußlos die Wohnung.

Als sich Herbert Steiner an jenem verhängnisvollen Morgen auf den Weg zu seiner Arbeitsstätte machte, war er von einem seltsamen, niemals in dieser Weise zuvor verspürtem Gefühl der Beklemmung durchdrungen. Eine Beklemmung, die seine Glieder und Gedanken zu lähmen schien. Der Tag hatte wie einer jener Tage begonnen, an denen man beim Erwachen sofort fühlt, dass Einem heute Unglück widerfahren wird. Doch als er aus dem dunklen Hausflur trat, begrüßte ihn der Tag in aller seiner Herrlichkeit. Strahlend blau zeigte sich der Himmel, den vereinzelt kleine weiße Wolken entlangwanderten. Eine leichte Brise zog durch die Stadt und wüßte man nicht um den eingekehrten Herbst, so hätte man sich inmitten des Frühlings gefühlt. Beide Hände tief in den Taschen seines Mantels vergraben schlenderte er den Weg an der Mauer des Zentralfriedhofes entlang.

Weit über die Mauer hinaus erstreckten sich die alten knorrigen Äste der Bäume über diesen schmalen Weg und ein Ausdruck der Verzweiflung schien in ihnen zu liegen. Hie und da fiel ein gelbes Blatt auf den Weg, sanft vom Winde geschaukelt, in der Hundertschar der auf dem Weg liegenden Blätter verschwindend. Vereinzelt saßen dunkle Vögel auf dieser Mauer und stießen schrille Laute nach allen Richtungen. Doch vermochten sie weder die Ruhe der Toten zu stören noch die Angst Steiners vertreiben. (…)

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