Geschaeft

Die Wunde

„Ist irgendjemand hier? Ich könnte schwören, dass ich nicht alleine bin. Zeigt doch eure Gesichter, wenn ihr da seid!“

RING! RING! RING!
Als Herbert Steiner der Forderung des unerbittlich schrillenden Weckers nachgab und die Bettdecke zur Seite warf, um mit einem schweren Seufzer die Beine aus dem Bett zu schwingen, da spürte er, dass dieser Tag von der ersten Minute an einen anderen Lauf genommen hatte als alle anderen Tage zuvor. Aus dem Dunkel war diese Empfindung unerwartet hervorgetreten. Noch stand sie still, war fern von ihm, verspürte er nur dumpf ihre Anwesenheit. Aber irgendetwas schien nicht an jenem Platz zu stehen, den ihm seine Weltordnung zugeordnet hatte und das bisher immer dort zu finden war. Irgendetwas fehlte. Und dieses Fehlen ließ diesen Tag nicht in der warmen Gewohnheit aller anderen Tage beginnen, nein, fast unwirklich kam ihm dieser Morgen vor. Und doch war etwas anderes vorhanden, etwas, dass eben nun an jenem Platz stand. Es war, als hätte man aus dem Alphabet einen Buchstaben entfernt und durch eine Ziffer ersetzt. Man spürte, dass die stets sanft dahinplätschernde Gleichmäßigkeit der Gewohnheit durcheinander gebracht worden ist, aber man konnte den Platz nicht bestimmen. Er stellte den Wecker ab und warf einen Blick über die Schulter. Auch seine Frau war erwacht. Gähnend streckte sie ihre Arme zur Decke, dann ließ sie sie wieder auf das Bett fallen und wandte ihrem Mann lächelnd den Kopf zu. In Gedanken versunken erwiderte er es, dann schlüpfte er in seine Hauspantoffeln und schlurfte ermattet zum Badezimmer. Als er am großen Fenster des gemeinsamen Schlafzimmers vorbeiging, schob er die Vorhänge beiseite und warf einen Blick nach draußen. Sie bewohnten eine kleine Wohnung im letzten Stock im elften Wiener Bezirk.

Ungewöhnlich hell für einen frühen Herbsttag leuchtete die Sonne vom Himmel herab. Er sah über die Dächer dieser erwachenden Stadt hinweg. Seine Augen glitten langsam den Horizont entlang. Er hatte etwas entdeckt, dass an diesem Morgen erstmals durch das Fenster in sein Zimmer gekommen war. Etwas, das er nicht sehen, doch blind ertasten konnte. Immer wieder wanderte sein Blick den Horizont entlang. Aber so sehr er sich auch mühte, mit welcher Klarheit er auch seinen Blick versah, es blieb in diesem Moment ein verschleiertes Geheimnis. Dieser Morgen stand in keinem Einklang zu allen bisherigen. Das fühlte er. Immer stärker umklammerte ihn die seltsamen Hand der Unruhe. Nachdenklich schlurfte er weiter zur Tür. Als er sie erreicht hatte, hielt er plötzlich inne und sah wieder zum Fenster. Der müde Ausdruck Miene seiner Miene wich allmählich einer verwunderten und langsam ging er wieder zum Fenster. Er legte beide Hände auf das Fensterbrett und sah mit ernster Miene wieder zum Himmel.
„Die Sonne“ murmelt er leise, „die Sonne.“
Seine Frau richtete sich auf und blickte besorgt zu ihm.
„Was ist denn mit der Sonne“ fragte sie vorsichtig.
„Sie erscheint mir heute … anders. Sie sieht aus wie immer. Stolz thront sie am Himmel, aber ihre Strahlen“, er warf einen kurzen Blick auf das Fensterbrett und strich dieses langsam mit beiden Händen entlang, „sie besitzen keine Wärme. Kalt ist dieses Brett. Ungewöhnlich kalt ist es in diesem doch sonst schon am Morgen von ihr aufgeheiztem Zimmer. Aber heute?“
„Du bist noch zu verschlafen“ versuchte seine Frau ihn zu beruhigen.
Sie sah es als jene Zerstreutheit an, von der Männer um die fünfzig für gewöhnlich erfaßt wurden. Immer mehr Dinge entfielen ihnen, immer ungewöhnlicher wurden die Perspektiven, aus denen sie die gewöhnlichsten Dinge betrachteten. „Geh´ dich jetzt waschen“ forderte sie ihn sanft auf.
„Hernach sieht die Welt wieder freundlicher aus.“
Er seufzte tief. „Ich hoffe, du behältst recht. Aber irgendetwas … irgendetwas …“ murmelte er, gefolgt von einigen tiefen Seufzern, “ … irgendetwas …“

Grübelnd stand er noch einen Moment beim Fenster, dann ging er, immer noch in Gedanken versunken, ins Badezimmer. Er zog sich aus, beugte sich über das Waschbecken und blickte in den Spiegel. Sein volles braunes Haar, auf welches er stets mit nicht geringem Stolz verwies, hing ihm wie das eines Jugendlichen in langen Strähnen ins Gesicht. Er schob es beiseite und blickte in seine Augen. Er liebte diesen Blick und fürchtete ihn im selben Ausmaß. Es waren die Augen des einzigen Menschen, der ihn verstand, die Augen des einzigen Menschen, dem er nichts vorspielen, den er nicht belügen konnte.
Diese Augen lobten, kritisierten, konnten freudig oder nachdenklich stimmen. Sie sprachen zu ihm, hießen dieses gut und jenes weniger.
Es waren die einzigen Augen des Lebens, die uneigennützig urteilten. Ihnen konnte er vertrauen. Als er an diesem Morgen in jene Augen blickte, sahen sie ihn von einer seltsamen Furcht erfüllt an. Er verharrte kurze Zeit still, dann senkte er seinen Kopf und drehte den Wasserhahn auf. Er ließ kaltes Wasser über beide Hände fließen und vergrub sein Gesicht darin.

„Vielleicht kann ich dieses seltsame Gefühl weggewaschen“ dachte er. Die schallende Nüchternheit des Wasser vertrieb die letzten Fetzen seines Traumes, rief den gähnenden Gliedern lauthals zu, ihre Funktionen wieder aufzunehmen. Aber gegen sein Unbehagen war auch kaltes Wasser machtlos. Er putzte sich die Zähne und begann, sich langsam anzukleiden. Sorgfältig hing sein bester Anzug in der Ecke dieses kleinen Zimmers. Seine Frau hatte ihn am Vortag gereinigt und von dem letzten Geld der Haushaltskassa eine elegante Krawatte gekauft. Fragend blickte in die Ecke, dann erinnerte er sich, dass für heute vormittag ein wichtiges Gespräch mit dem Geschäftsführer anberaumt war. Fast schüchtern nahm er sie und besah sie ehrfüchtig. Doch dann erschien plötzlich das Bild der leeren Kassa vor ihm. Was sie wohl gekostet haben muss, fragte er mit einem Gefühl des Bedauerns für solch eine -seiner Meinung nach- unnotwendige Ausgabe.
Die Worte seiner Frau, mit denen sie diesen Kauf gestern Abend erklärt hatte, erklangen wieder in seinen Ohren.
„Dieses Gespräch ist für uns von großer Wichtigkeit, Herbert. Wir dürfen nichts außer Acht lassen, was vielleicht den Ausgang zu unseren Ungunsten entscheiden könnte. Ein positives Erscheinungsbild ist der halbe Sieg sein.“

Nachdem er sich fertig angekleidet hatte, besah er sich zufrieden im Spiegel. Vorsichtig rückte er die Jacke zurecht und bestätigte seine Frau. Wie recht sie hat, dachte er. Ich wirke seriös, wie ein Mann von Welt. Und noch ein Lächeln aufgesetzt, dann wird mir wohl niemand mehr widerstehen können. Dieser Anzug macht den Lohnverrechner Steiner ja fast zu dem Bankdirektor Steiner. Wenn ich da an den schäbigen Anzug denke, mit dem ich tagein tagaus im Büro sitze. Nun, wenn heute alles gut gehen sollte, dann werde ich mir einen Neuen kaufen. Ach, wenn heute nur alles gut geht … meinen Traum werde ich mir dann erfüllen. Meinen Traum! Viel zu lange schon träume ich ihn, so lange schon, dass er mir kaum mehr zu verwirklichen scheint. Er betrachtete aufmerksam sein Gesicht. Die Rasur schien perfekt, das Haar saß ordentlich, die Wangen schimmerten leicht rötlich und verrieten Leben. Als er jedoch in seine Augen blickte, las er in ihnen wieder diese seltsame Angst. Für einen kurzen Moment nur hatte er sie vergessen. Doch seine Augen brachte sie wieder; nein, sie erinnerten ihn an ihre Gegenwart. Er stütze sich mit beiden Händen auf das Waschbecken. Stärker denn je war sie nun in ihm vorhanden. Plötzlich sah er deutlich die Lippen seiner Frau vor sich, wie sie ihm heute zugelächelt hatten. Und nun wurde ihm bewusst, dass dies ihn umbekannte Lippen gewesen waren. Niemals zuvor hatte er sie gesehen. Was ist denn nur heute los mit mir, dachte er. Keinen Tropfen Alkohol habe ich gestern getrunken, ja, bin schon um acht Uhr im Bett gelegen und habe bis Neun die Zeitung gelesen. Woher kommt dieses eigenartige Gefühl, die Angst vor etwas Unbekanntem? Es war ihm, als wäre er heute unter einer unheilvollen Glocke erwacht, die sich immer tiefer über ihn senkte. Die ihn die Welt sehen ließ, wie er sie immer gesehen hatte. Aber nichts schien von ihr durch diese Glocke an ihn zu dringen. Er verließ das Badezimmer und ging in die Küche, in welcher seine Frau das Frühstück zubereitet hatte.

Er setzte sich an den kleinen Tisch in der Ecke Platz und nahm gedanken versunken einen kräftigen Schluck Kaffee. Verwundert hielt er das Glas von sich und blickte hinein. Dunkel glich die Oberfläche das leichte Zittern seiner Hand aus.
„Hast du gestern neuen Kaffee gekauft“ fragte er, ohne den Blick abzuwenden. Seine Frau, die ihm gegenüber saß, verneinte.
„Hm … eigenartig. Er schmeckt nach nichts. Und zudem ist er kalt.“
Er führte das Glas näher an sein Gesicht, seine Nasenspitze berührte leicht den Rand. „Ich glaube, dass er kalt ist.“
Seine Frau sah ihn erstaunt an.
„Was heißt, du glaubst, dass er kalt ist? Das wirst du doch fühlen. Aber
ich kann dir versichern, dass ich ihn eben gekocht habe.“
Steiner stellte das Glas auf den Tisch. Mit einer abwinkenden Handbewegung, so, als wolle er etwas unerklärbarem nicht weiter nachspüren, fuhr er fort: „Ich werde heute ein wenig früher gehen.“

„Viel Glück heute beim Gespräch. Ich werde die Wohnung noch zusammenräumen, dann besuche ich Mutter. Sie wartet immer noch auf unsere Einladung. Herbert, auch wenn sie dir nicht besonders gut gesinnt ist, so bleibt sie doch meine Mutter. Du darfst sie nicht ausschließen. Wir sollten sie nun endlich wieder einmal einladen. Dann hättest du wieder für lange Zeit Ruhe.“
Herbert Steiner seufzte laut auf. Sein Frau überhörte dies und schlug ihm vor, sie kommenden Sonntag zum Mittagessen einzuladen.
„Jetzt zieht sich euer Streit schon Jahre hin. Warum denkt ihr beide nicht einmal an mich? Ich leide unter dieser Situation. Es wäre mir …“
Die Erinnerung an ihre Mutter schien eine alte Wunde wieder aufgestochen zu haben und nun flossen ihr die Worte wie ein reißender Strom aus dem Munde. Doch Steiner nahm sie immer verzerrter wahr, bis sie sich in nur noch zwei Tönen verwandelt hatten. Einem hohen, der seine Aufmerksamkeit für einen Augenblick streifte. Und einem tiefen, dumpfen, der ihm die Stimme seiner Frau immer fremder erschienen ließ. Dieses seltsame Gefühl des Unbehagens wurde indes immer intensiver. Steiner überlegte, ob es vielleicht Angst vor dem kommenden Gespräches war. Deutlich zeichnete sein Geist das Bild des Geschäftsführers.

Er würzte dieses mit der Bedeutung des heute stattfindenden Gespräches. Doch konnte er kein Anzeichen von Nervosität in ihm erkennen. Nein, diese Unterredung trug keineswegs Schuld an jener Angst, die ihn erfüllte.
„… und auch dir würde das gefallen. Herbert? Herbert?“
Seine Frau beugte sich vor und schüttelte ihn sanft an der Schulter.
„Herbert? Fühlst du dich nicht wohl?“
Er sah sie erstaunt an. Dann fiel ihm die begonnene Unterhaltung über ihre Mutter ein.
„Ja, dann lade sie ein“ versuchte er ihren kritischen Blick zu entkräften.
„Hast du mir überhaupt zugehört?“
„Aber sicher. Und ich finde auch, dass wir sie am Sonntag einladen sollten.“
„Ich habe dir aber gerade erzählt, dass ich vergessen hatte, das sie Freitag für eine Woche auf Kur nach Salzburg fährt.“
Peinlich berührt sah Steiner zur Seite. Mit beleidigter Miene stand seine Frau auf und begann wortlos, den Tisch abzuräumen. Er betrachtete ihren schmalen, kinderlos gebliebenen Körper, der nun schon seit fast dreißig Jahren an seiner Seite war. Doch jede ihrer Bewegungen war ihm fremd. Er verspürte auf einmal den Wunsch, diesen Ort so schnell als möglich zu verlassen. Hastig stand er auf und verließ die Küche. Er schlupfte in seinen langen, beigen Mantel, setzte seinen Hut auf und verließ grußlos die Wohnung.

Als sich Herbert Steiner an jenem verhängnisvollen Morgen auf den Weg zu seiner Arbeitsstätte machte, war er von einem seltsamen, niemals in dieser Weise zuvor verspürtem Gefühl der Beklemmung durchdrungen. Eine Beklemmung, die seine Glieder und Gedanken zu lähmen schien. Der Tag hatte wie einer jener Tage begonnen, an denen man beim Erwachen sofort fühlt, dass Einem heute Unglück widerfahren wird. Doch als er aus dem dunklen Hausflur trat, begrüßte ihn der Tag in aller seiner Herrlichkeit. Strahlend blau zeigte sich der Himmel, den vereinzelt kleine weiße Wolken entlangwanderten. Eine leichte Brise zog durch die Stadt und wüßte man nicht um den eingekehrten Herbst, so hätte man sich inmitten des Frühlings gefühlt. Beide Hände tief in den Taschen seines Mantels vergraben schlenderte er den Weg an der Mauer des Zentralfriedhofes entlang.

Weit über die Mauer hinaus erstreckten sich die alten knorrigen Äste der Bäume über diesen schmalen Weg und ein Ausdruck der Verzweiflung schien in ihnen zu liegen. Hie und da fiel ein gelbes Blatt auf den Weg, sanft vom Winde geschaukelt, in der Hundertschar der auf dem Weg liegenden Blätter verschwindend. Vereinzelt saßen dunkle Vögel auf dieser Mauer und stießen schrille Laute nach allen Richtungen. Doch vermochten sie weder die Ruhe der Toten zu stören noch die Angst Steiners vertreiben. (…)