Liebesbrief „Die Wiederkehr“
„Geliebter, ich bin zurückgekehrt!!!“
Mit diesen Worten begann der mit tiefdunkler Tinte in schwungvollen, sich nach allen Richtungen weit erstreckenden Buchstaben geschriebene Brief. „Geliebter, bald sind wir beide wieder vereint“ fuhr er fort und wies im folgenden auf den Ort und das Datum seiner Geburt hin. „Wien, der 12. Juni.“ Vor zwei Tagen also saß sie über dieses Blatt Papier gebeugt und schrieb diesen Brief an ihn. Er konnte förmlich die Wärme ihres Körpers in seinen Händen spüren. Ein Schauer begann ihm über den Rücken zu jagen und stirnrunzelnd las er mit ernster Miene weiter. „Glücklich bin ich, Geliebter, so unsagbar glücklich, Dich in meiner Nähe zu wissen. Ja, es scheint mir, als könnte ich in meinem kleinen, stillen Zimmer Deinen Atem vernehmen. Und wenn ich meine Augen schließe, so steigt der Duft Deines wunderbaren Körpers von tief auf, um sich in diesem Zimmer zu verbreiten. Dein Photo liegt vor mir auf dem Tisch. Jenes Photo, daß ich damals in einer wunderbaren Sommernacht auf dem Kobenzl aufnahm.
Wir liebten den Kobenzl. Alle Menschen dieser Stadt scheinen ihn zu lieben. Erinnerst Du Dich noch dieser Nacht? Als wir eng umschlungen mit unseren Augen den mit Sternen übersäten Himmel entlangwanderten und davon träumten, auf einem von ihnen für alle Ewigkeit zu leben, zu lieben. Keinen Menschen fürchtend, die Zweisamkeit als Verschmelzung unserer Seelen ersehnend. Als wir erkannten, daß wir unsere Wege übereinander legen mußten und dies auch flammend verlangten. Zwei Wege, die zu einem werden und auf welchem wir uns, bedeckt mit diesem wunderbaren „für immer“ einander gehorchen und führen. Erinnerst Du Dich noch an die Versprechen, die wir uns zärtlich einander zuflüsterten? Die Gelöbnisse, von dieser wunderbaren Nacht in eine Heiligkeit getaucht, die sie als das einzig Wahre dieser Welt erscheinen ließ? All die Nüchternheit des Lebens löste sich auf und entschwand wie weißer Rauch im Dunkel der Nacht. Wie unsere Lippen unter den Küssen erbebten, wie unsere Körper unter dem Mantel der Liebe erzitterten. Dein Körper war meiner und mein Körper der Deinige. Verschlungen habe ich Dich, Deinen Körper und Deine Seele gierig in mich gesogen. Wieder und immer wieder habe ich mich von Dir ernährt, hast Du mich wachsen lassen, wurde ich groß und stark durch Dich. Unsterblichkeit hast Du mir gegeben, mich unverwundbar dieser Welt entgegentreten lassen.
Der Gedanke an Dich, Dein in meinem Geiste gezeichnetes Gesicht war mir Schutzschild gegen alles Schlechte dieser Welt. In welcher Düsterkeit auch jede Minute begann, sie endete doch immer mit einem Lächeln. Du warst es, der sie erhellte, sie freundlich und lebenswert erscheinen ließ. Du warst es, der mir jede Angst nahm und nur noch eine einzige tief in mir schlummern ließ – die Angst, Dich zu verlieren. Diese Sehnsucht nach Dir, die ich empfand, brennend war sie und süß. Ja, durch sie erfuhr ich erst, daß Sehnsucht ein süßer Schmerz ist. Sehnsucht, die man erfüllt werden weiß. Sie hielt mich in den einsamen Stunden des Tages an Leben, hielt mich am Leben nur für die Abende, die wir wieder verbringen würden. Abhängig war ich von Dir. Von Deinem hübschen Gesicht, von Deinen starken Armen, von Deinen lachenden Augen, von Deiner sanften Stimme. Das Elixier des Lebens warst Du für mich. Und das Elixier des Lebens bist Du für mich. Nur Deine Flamme vermag es, mich zu wärmen. Tot wäre ich, wüßte ich, daß es Dich nicht mehr gäbe. Jedes Deiner Worte an mich erklingt in meinem Ohr, eine süße, liebesdurchtränkte Melodie, die meinen Körper beben läßt. Jeder Deine Blicke trifft mich, wandert durch meine Augen mitten in mein Herz, mir Kraft und Wärme spendend wie es nur Deine Blicke vermögen. Ich sitze in diesem engen kahlen Zimmer, umschlossen von tristen schmutziggrauen Wänden und doch ist es von einer Helligkeit durchflutet, einer Helligkeit, die durch Dich, Geliebter, die durch Dich in dieses Zimmer strömt. In jeden Winkel, in den ich blicke, sitzt sie und gibt diesem Zimmer etwas paradiesisches. Wie ein Garten mit den herrlichsten Blumen erscheint es mir, erschaffen nur durch Dich. Dieser Brief läßt mich Dich berühren, läßt die Einsamkeit dieses Raumes verschwinden, durchfährt mich mit einer lange nicht mehr erlebten Glückseligkeit. Kannst Du das Pochen meines Herzens vernehmen? Nur für Dich schlägt es noch. In jedem Schlag, den es tut, liegt auf dem sanften Bette meiner Fasern des Herzens Dein Gesicht. Spürst Du, wie sie es umschmiegen, vor allem Unheil schützen? Spürst Du es, Geliebter? Ich sitze in diesem grauenvollen Zimmer und nur Du machst es mir erträglich. Nicht einmal über diesen Raum kann ich klagen, nein, die Kraft fehlt mir dazu. Du hast sie mir geraubt, hast sie gierig an Dich genommen. Aber ich habe sie mir nehmen lassen. Ja, mit einem Lächeln habe ich sie Dir bereitwillig gegeben, wissend, daß Du mit ihr umzugehen weißt.
Nur Du weißt ihren Wert zu schätzen, nur Du vermagst es zu ermessen, welchen Schatz Du in Händen hältst. Und nur Du bist in der Lage, diese Kraft zu nähren, das Feuer dieser Kraft zu schüren. Wie schön Du doch anzusehen bist, Geliebter. Das Photo, welches vor mir auf dem Tisch liegt, es scheint zu leben. Ja, ich sehe, wie es den Tisch entlangtänzelt. Nun ist es über diesen Brief geglitten und hat meine Hand gestriffen. Wie ein Blitz hat es mich eben durchzuckt, wie ein Blitz, der den mit dunklen Wolken verhangenen Himmel mit einem Mal entschleiert hat und ihn nun in hellem Blau mit vereinzelt weißen Wolken über meinem Kopf zeichnet. Sanft werden diese Wolken von einer leichten Brise gezogen. Sie wandern, diese Wolken, sie wandern von diesem Zimmer, von mir … sie wandern zu Dir. Dein Bild, es beginnt nun zu schweben. Dein Gesicht auf diesem Photo, Deine Lippen, sie formen sich zu einem Lächeln. Und nun flüstern sie mir Worte zu, Geliebter. Klar und deutlich kann ich sie hören. Es sind Worte, die mich rufen … Geliebter, ich höre Dich rufen. Ich werde Deinem Verlangen nachgeben, ergebe mich meinem Verlangen, bald werde ich kommen – zu Dir! Deine Augen auf diesem Bild, sie blicken auf mich aufgewühlte See. Alles Leben habe ich See verschlungen und wieder an Land gespült. Nur noch Platz für Dich habe ich. Vorbei die Zeit der geglätteten Wogen, vorbei die Zeit, als kleine Steine in mich fielen, die immer größere Kreise zeichneten, um dann fern am Horizont zu verschwinden. Wild peitscht mich nun der Wind zu Dir empor. Spürst Du, wie ich See mich aufbäume, wie ich versuche, Dein Bild zu erreichen? Nur noch für Dich werde ich mich Aufbäumen. Gegen alles, was Dir Schaden zufügen möchte, gegen alles Böse werde ich kämpfen, um Dich, Geliebter, zu beschützen, vor Unheil zu bewahren. Nur noch Dich gibt es für mich. Wie schön Du doch bist, Geliebter. Ich kann es Dir nicht oft genug wissen lassen. Die Freude ist es, die mich dazu treibt. Sie zwingt mich, sie drängt es mir auf, sie läßt es mich aus dem Tiefsten verlangen, Dir dies immer wieder in Dein Ohr zu hauchen. Ach, wie schön Du doch bist … Deine Augen lächeln mir unaufhörlich zu. Wie sehr habe ich diese Augen vermißt, wie sehr Dein dunkles, kurzes Haar, durch welches ich glücklich unzählige Male meine Hände haben gleiten lassen, um gleich darauf mein Gesicht in sie zu legen und Deinen Duft in mich aufzunehmen. Wie ein warmer sonniger Frühlingstag dufteten sie. Und wie eine warmer sonniger Frühlingstag duften sie – auch jetzt.
Ach, Geliebter, hörst Du mein Seufzen? Dir gilt es, nur Dir. Es ist ein freudiges Seufzen, ein Seufzen daß nur jenem Tag gilt, der uns beide zueinander führen wird. Wir beide, Geliebter, wir beide sind füreinander bestimmt. Du weißt es, Geliebter, und ich weiß es. Keiner von uns kann sich dagegen erwehren. Aber weshalb sollten wir dies auch? Alle Glückseligkeit wird uns empfangen, das Universum selbst erstrahlt vor Freude. Kein Sommer mehr, Geliebter, kein Winter mehr, kein Herbst. Frühling wird unser Leben sein, Frühling, Frühling, Frühling. Erblühende Bäume, farbenprächtige Blumen, duftende Wiesen, getaucht in fröhliches Vögelgezwitscher, beschützt vom klaren blauen Himmel, von der Sonne mit warmen Strahlen beschenkt. Das ist unser Leben, Geliebter. Spürst Du nicht, wie es uns beide zu sich ruft? Das Leben will uns ein Geschenk machen. Es will uns diesen Frühling schenken, nur uns beiden. Wenigen Menschen nur läßt der Frühling diese Ehre zuteil werden. Wir müssen diesem Ruf folgen – wir werden diesem Ruf folgen. Hand in Hand werden wir vor ihm stehen und mit einem Lächeln werden wir uns bedanken. Er hat unsere Fäden zusammengeführt, ineinander zu einem Band verflochten, daß durch nichts mehr getrennt werden kann. Mein Faden ist ohne den Deinigen wertlos, haltlos, an jeder Stelle von solch einer dünnen Stärke, die ein bloßer Atemhauch schneiden könnte. Und auch Dein Faden ist nicht stärker. Aber zusammen, Geliebter, zusammen kann dieses Band die Last dieser Welt mit sich ziehen. Zusammen, Geliebter, kann es die Last dieser Welt fern von sich halten. Niemals wird uns Unglück widerfahren, niemals, Geliebter, niemals wieder!
(Nach meinem letzten Wort bin ich aufgestanden und ziellos durch mein kleines Zimmer geirrt. Immer noch kann ich dieses Unglück von damals nicht verstehen. Von damals, mein Gott, damals. Kaum einen Hauch der Zeit liegt es zurück, aber es erscheint mir, als wäre hunderte von Jahren vergangen. Doch was ändert das schon? Untrennbar führen unsere Fäden durch alle Gewalten der Zeit. Unbeirrbar gleiten sie durch Stürme, durch Nebel und Sonnenschein, durch Kälte und Wärme. Ach Geliebter! Nun schreibe ich diese kurzen Zeilen, um Dir mitzuteilen, daß ich der Vergangenheit wegen leide und gleich wieder meine Kreise durch dieses Zimmer ziehen werde, auf der Suche nach Worten.)Ich glaube, nun, nach endlos vielen Kreisen, die Worte gefunden zu haben. Zwei Jahre ist es nun her, beinahe auf den Tag genau. Es war der 31. Mai dieses Jahres (und Du siehst, daß alle mit Dir zusammenhängenden Daten sich tief in mein Herz gebrannt haben!), von diesem Tag an wurdest Du mir entrissen. Warum muß man alles Glück dieser Welt stets mit Schmerz bezahlen? Wenn ich jetzt zurückdenke, so war es der traurigste Tag in meinem Leben. Er führte mich zu einem von Schmerz durchtränkten Weg. Dunkel war er und giftige Dornen spalierten ihn. Tausende Male bin ich blind gegen solch einen Dorn gerannt. Durchstochen wurde mein Körper und meine Seele. Sein Gift hat er in mich fließen lassen und immer tiefer fuhren die Dornen. Immer schmerzvoller wurde das Gift, immer heftiger wand und krümmte ich mich unter diesen Schmerzen. Ich entsinne mich noch jenes Tages, Geliebter, dieses stürmischen 31. Mai jenen Jahres. Der Tag, an dem Gott und Teufel auf dieser Erde wandelten und ihre Heerscharen aussandten, der Tag, an dem ein erbitterter Kampf zwischen den Engeln des Himmels und jenen der Hölle tobte. Wer gewann? Wer verlor diesen schrecklichen Kampf? Ich vermag es nicht zu sagen, doch ihr Kampf ließ diesen furchtbaren Weg zurück. Wie eine Flut brach er über uns tosend herein. So unerwartet, daß wir beide gelähmt es walten ließen. Immer länger dauerte dieser Kampf. Entzücken wich Erschauern. Erschauern wich Entzücken. Keiner von uns war einer Bewegung fähig. Immer länger dauerte er an, immer länger. Und dies ließ es noch stärker werden. Es nutzte unsere Starrheit und trennte das Band. Und als wir uns zu regen begannen war es zu spät. Immer leiser erklangen unsere Worte, bis wir selbst unsere eigenen nicht mehr verstehen konnten. Von einem grauenvollen, todbringenden Lärm wurden sie verschluckt. Ich sehe noch, wie wir verzweifelt unsere Hände nach dem anderen ausstreckten. Doch immer tiefer zog das Böse unsere Körper und unsere Seele. Du wolltest mich vor dem Versinken retten und sankst doch selbst. Ich wollte Dich aus diesem gräßlichen Sumpf emporziehen und doch zog er auch mich hinab. Verzweifelt rudernde Hände, die immer weiter voneinander driftend versanken. Es war zu spät für uns. Alles ging so schnell. Keine Hand konnte die andere mehr erreichen. Nur diese Berührung hätte uns vor dem Versinken retten können. Doch zu stark waren die Wurzeln, die sich um unsere Beine geschlungen hatten und uns in die Tiefe zogen. Ein entsetzter Blick von Dir noch, dann entschwandest Du meinen Augen.
Lange ist es nur her, dass dieses Unglück über uns hereinbrach. Ein Ewigkeit, in der ich um Dich hungerte und in der mich nach Dir dürstete. Sie nahmen mir Dich, aber meine Gedanken, meine Erinnerungen vermochten sie nicht an sich zu reißen.
Ich lebte von den Erinnerungen an Dich. Ich aß und trank mich satt an ihnen. Doch mit jedem Bissen, mit jedem Schluck dieser Erinnerungen wuchs mein Hunger und wuchs mein Durst, wurde immer größer, immer unerfüllter. Lange Zeit, die ich alleine in einer kleinen Stadt in der Schweiz verbracht habe. Kalt waren die Zimmer meiner Wohnung ohne Dich, kalt waren die Menschen, die mich umgaben, kalt erschien mir die ganze Stadt. Ach, soviele Minuten, Stunden, Tage, Wochen, die ich mit diesen Wurzeln zu kämpfen hatte. Ich dachte anfangs, sie nie wieder von meinen Beinen lösen zu können. Doch meine Zähigkeit war es, mein unablässiger, unermüdlicher Kampf gegen diese Umklammerung der kalten Knochenhand des Trübsals, die mich schlußendlich gewinnen ließ. Meine Freiheit habe ich wiedererlangt. Verstehst Du, Geliebter, meine Freiheit! Dem Trübsinn konnte ich entkommen, dem Sinken, dem Dunkel. Atmen kann ich wieder, jene Luft atmen, die nur ich will. Viele Tage alleine in einem fremden Land, in einer fremden Stadt mit fremden Menschen. Es war mir, als würde niemand meine Sprache sprechen. Ja, ich entdeckte, dass nur Du meine Sprache sprichst, dass nur Du imstande bist, mich zu verstehen, mich zu lesen. Blind erscheinen mir die Menschen dieser Stadt, blind erscheinen mir alle Menschen dieser Welt zu sein, alle – außer Dir!
Viel habe ich gelernt in der Zeit mit Dir. Viel habe ich erfahren und gelernt, doch was hat es mir am Ende gebracht? Was nach unserem Ende? Kalt hat es mich werden lassen und teilnahmslos. Meinen Blick hat es trüb werden lassen, meinen Kopf hängen, meine Beine schwer und meine Arme schlaff. Soll ich denn auf diese Erfahrung stolz sein? Traurig hat sie mich werden lassen, traurig und immer hungriger nach Dir, Geliebter, nach Dir. Mit jeder Fessel, die ich abstriff, kam ich Dir näher. Mit jedem Näherkommen wurde ich stärker. Und mit jeder neu erlangten Kraft liebte ich Dich nur noch inniger. Und nun kehre ich wieder zu Dir zurück. Stark, erfahren, hungrig, liebend, verlangend. Stark haben mich diese beiden Jahre werden lassen. So stark, dass nichts mehr unser Band zerreißen wird. Erfahren haben mich diese beiden Jahre gemacht. So erfahren, dass ich nun den wahren Wert dieses Lebens kenne und zu schätzen weiß. Hungrig haben sie mich gemacht. So hungrig, dass ich nur noch den besten Geschmack des Liebens möchte. Zu viele, die Süße vortäuschen, an der man im nächsten Moment erbricht. Liebend haben mich diese zwei Jahre entlassen. Liebend und trauernd. Nur einen Menschen auf dieser Welt liebend. Nur einen Menschen auf dieser Welt betrauernd. Verlangend wurde ich in dieser dunklen kalten Zeit der Einsamkeit. Schrecklich verlangend – nach Dir! Vor einer Woche bin ich aus dieser Stadt und aus diesem Land geflüchtet. Zurückgekehrt in jene Stadt, in der ich die schönste Zeit meines Lebens verbracht habe. Die Zeit mit Dir, Geliebter! Zurückgekehrt in die Stadt, die uns einander finden ließ. Ach, ich kann mein Glück kaum fassen. Ein Zimmer fand ich schnell in der Nähe des Westbahnhofes. Dumpf dringt der Lärm der Straße in diesen Raum. Herrlich klingt er, fast wäre ich versucht, ihn als Musik zu bezeichnen. Nein, er ist Musik. Dieser Lärm lässt mein Herz höher schlagen, lässt mich freudig aus dem Fenster blicken. Ja, er spendet mir Freude, Geliebter, denn es ist der Lärm Deiner Stadt. Es ist jener Lärm, den auch Du vernimmst, der auch an Deine Ohren dringt. Wie anders er doch klingt als jener in dieser kalten Stadt in der Schweiz. Ob Du wohl diese Straße an meinem Fenster entlanggefahren bist?
Ob Du wohl in jenem Geschäft warst, in dem ich mir heute zu Essen kaufte? Ob Du wohl mit jener Straßenbahn gefahren bist, in der ich saß? Ach, Geliebter, Du weißt, wie sehr Du meine Gedanken beherrscht. Mächtig bist Du, wie ein König thronst Du hoch über mir. Und ich knie vor Dir und blicke zärtlich auf zu Dir und flüstere mit sanfter Stimme zu Dir und erbitte alles … alles von Dir! Wie schön Du doch bist, Geliebter! Kein anderes Gesicht hat mir jemals mehr Freude gespendet als Deines, kein anderes Gesicht erschien mir lieblicher. Und nun bin ich wieder in unserer Stadt, suche Deine Nähe, folge Dir, wohin auch immer unser Weg führen mag. Nichts nichts nichts wird dieses Mal unsere Liebe zu trennen vermögen. Zu stark sind wir beide. Stark sind wir geworden, Du und ich! Narben tragen wir beide auf unserer Seele, Narben, die uns diese trostlose einsame Zeit niemals mehr vergessen lassen, die Zeit Deines Dunkels und meines Dunkels. Als Mahnmal wollen sie wir ansehen, als ewig mahnendes Mal des Lebens. Deinen Namen ziert meine Narbe, meinen Namen ziert Deine Narbe. Herrlich wird unsere Zukunft werden. Mit offenen Armen vom Frühling empfangen – was kann uns noch Schlimmes geschehen, Geliebter? Der Frühling wird unser Garten, der Frühling wird unser Haus, der Frühling wird unser Kind, der Frühling, ach, er beginnt, unser Leben zu werden. Pläne trage ich in meinem Herzen, Geliebter. Pläne, die ich in der dunklen Zeit geschmiedet habe und die wir nun verwirklichen werden. Ach, ich seufze unaufhörlich vor Glück. Kannst Du es hören? Ich bin sicher, dass Du es vernimmst! Wo immer Du Dich auch in diesem Moment befinden magst … es dringt über alle Straßen durch alle Mauern zu Dir, es dringt durch den Himmel und das Universum zu Dir und lässt Dich wissen: ich komme, ich bin auf dem Weg zu Dir! Vielleicht magst Du ein wenig überrascht darüber sein. Doch fasse Dich schnell, Geliebter, denn dies wird der letzte Moment sein, in dem uns das Unheil noch gefährlich werden kann. Begreife schnell, Geliebter, verharre nicht zu lange in Erstaunen. Sonst wird uns das Unglück ein zweites Mal überraschen. Schmiede Deine Pläne weiter (ich weiß, dass auch Du in der kalten Zeit erdacht, entworfen und geschmiedet hast!); sie lassen uns unverwundbar werden.
Ich kann Deine Freude spüren, ja, wie ein warmer, wohltuender Luftzug dringt sie in dieses Zimmer. Ach, Geliebter, all meine Angst wich mit dem Betreten Deiner Stadt. Angst habe ich viel zu lange schon verspürt. Ich wußte, dass Du nach mir suchtest. Ich spürte es. Verzweifelt strecktest Du alle Deine Sinne von Dir, hoffend, mich zu ertasten, erfühlen, erschmecken. Ich spürte es und konnte Dir doch kein Wort zuflüstern. Zu hart, zu unerbittlich der Griff dieser Fesseln um meine Seele. Ich war unfähig, auch nur ein Wort über meine Lippen zu bringen. Doch die Furcht um Dich machte mich fast wahnsinnig. Das Gift der Dornen und die Furcht, Du würdest resignieren, sie begannen langsam, meine Seele aufzulösen. „Du hast aufgehört, mich zu suchen“ flößte mir das Gift immer wieder ein. Doch meine Seele verneinte stets mit ruhiger, gefaßter Stimme. Aber sie wurde mit der Zeit immer leiser, immer kraftloser, versuchte immer krampfhafter, ihren Verfall vor dem Gift zu verheimlichen. Immer intensiver spürte ich, wie sie sich allmählich zu ergeben begann. Und dann – dank Dir! – gelang es mir (trotz meines verzweifelten Kampfes war ich darüber selbst ein wenig überrascht), diese Fesseln von mir zu streifen, diesen Weg der Vernichtung zu verlassen. Meine Seele genas wieder, mein Geist begann sich aufzurichten und mein Körper wurde immer leichter. Frei geworden atmete ich tief durch und floh dann aus dieser Stadt, floh direkt zu Dir, Geliebter. Und schon beim ersten Schritt, den ich in diese Stadt setzte, spürte ich, dass auch Du hier bist, hier, in Deiner so geliebten Stadt! Weißt Du, wie glücklich mich das machte? Kannst Du ermessen, welch gewaltige Freude mich in diesem Moment durchströmte? Sie raubte mir den Atem, ließ alle Kraft aus meinem Körper in meine Seele gleiten. Ich mußte im Stadtpark auf einer Bank Platz nehmen, sonst wäre ich vor Glück zusammengebrochen. Vor Glück zusammenzubrechen – kannst Du das verstehen?
Ach, Geliebter, so unbeschreiblich glücklich bin ich, Dich in meiner Nähe zu wissen. Und bald, bald gibt es ein Wiedersehen. Laß mir noch einige Tage Zeit. Ich weiß, dass Dich brennend nach mir verlangt, aber auf einige Tage mehr oder weniger kommt es nach dieser lange Zeit der Einsamkeit und vor dieser Ewigkeit der Zweisamkeit nicht mehr an. Ich möchte in aller Schönheit vor Dir erscheinen. Noch muß ich mich einige Tage pflegen, so manche erlittene Wunde noch verarzten. Aber bald sehen wir uns wieder. Ach, wie schön Du doch bist, Geliebter. Vielleicht werde ich vor unserem Wiedersehen noch einen Brief verfassen, die geballte Freude meines Herzens zu Papier bringen – vielleicht auch nicht. Beruhige Dich, Geliebter, beruhige Dich doch. Ich spüre förmlich, wie Du vor Aufregung erzitterst. Auch mir geht es nicht anders. Aber nun folgen die letzten Tage unserer Einsamkeit. Bald schon werden wir für immer beisammen sein. Warte auf mich, Geliebter, dränge mich nicht und suche nicht nach mir. Es würde nur vieles zerstören. Und das wollen wir beide nicht. Warte auf mich, Geliebter, in wenigen Tagen werde ich wieder bei Dir sein – für immer!
In Liebe, Gabriele.
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Langsam ließ Andreas Bender den Brief aus seiner Hand auf den kleinen Holztisch seines Arbeitszimmers gleiten. Nachdenklich blickte er durch das Fenster in den wolkenlosen, strahlendblauen Himmel. Er war eben aus der Arbeit gekommen und hatte diesen interessant aussehenden Brief auf seinem Tisch vorgefunden. Aber niemals hätte er vermutet, dass er von ihr wäre, von Gabriele. Gabriele! Weit ging er in der Zeit zurück und öffnete jene Lade, die mit ihrem Namen versehen war. Gabriele! (…)