Geschenk

Das abgebrochene Geschenk…

… und die tragischen Folgen

Eine Wiener Geschichte aus Wieden

Im vierten Wiener Gemeindebezirk befand sich bis vor einem Monat in einem altehrwürdigen, sechsstöckigen Mietshaus der „Naturfreunde“-Verlag. Manch einer wird sich vielleicht noch an ihn erinnern können, vorrangig an die von ihm herausgegebene, allwöchentlich erscheinende Zeitschrift „Naturfreund“. In ihr fand man beginnend von Abhandlungen sämtlicher Bereiche der Botanik über vegetarische Rezepte sonderbarster Art bis hin zu interessanten Tipps für Sonnenanbeter, Spaziergänger und Wanderer Informationen über so ziemlich alle Naturfreuden, die denn nun an den Herzen der Naturfreunde unter uns zu rühren vermögen. Ebenso erfuhr man Interessantes über die Geschichte des Wassers oder verschiedenster Gesteine, flammten Appelle zur Nutzung der Sonnenenergie über so manche Seite und wurde Woche für Woche auf einen esoterischen Streifzug entführt.

Und wenn auch so mancher Artikel einer gewissen Merkwürdigkeit nicht entbehrte (dies betraf hauptsächlich Beiträge für die Vegetarier und Esoteriker unter uns), so hatte dieses Blatt doch etwas Liebenswertes, Reizendes an sich, mochte der Grund hierfür in den stets mit einer Zeichnung verzierten Titelblättern liegen oder einfach nur an der politischen und religiösen Harmlosigkeit seines Inhaltes. Der Geschäftsführer (und auch Eigentümer) dieses unabhängigen Verlages war Herr Planberger, ein Mann in den fünfzigern, von kleinem Wuchs und mit ebensolchem Bäuchlein, schütterem Haar und lässiger (manchmal auch etwas vernachlässigter) Kleidung, die alle zusammenwirkend seiner Erscheinung etwas Drolliges verliehen. Nur die etwas zu groß geratene Brille, die auf seiner kleinen, breiten Nase saß, schien sich nicht so recht der Harmonie dieses Bildes fügen zu wollen und hatte etwas trotzig-rebellisches an sich haften. Herr Planberger war trotz der Verantwortung, die er seit seinem dreißigsten Lebensjahr trug und die nebst seiner eigenen Person auch die der achtzehn Angestellten des Verlages umfaßte, von seinem Wesen her doch offen und freundlich geblieben. Er zeigte sich zumeist heiter und an nicht wenigen Tagen von einer Beschwingtheit, wie man sie an einem zu jeder Stunde hellwachen und um das Überleben kämpfen müssenden Unternehmer nicht oft findet. Stets hatte er für die Probleme seiner Mitarbeiter ein offenes Ohr, mochte es den Beruf betreffen oder sich um Privates handeln. Dem kleinen Mann von der Straße trat er ebenso höflich und aufmerksam entgegen wie aus Medien bekannten Menschen, mit denen er des öfteren zu tun hatte. Fremde gab es seinen Worten nach nicht, „sie wohnen nur drüben, hinter dieser seltsamen Grenze“ pflegte er stets zu sagen. Kurzum, Herr Planberger war der Typus eines kosmoplitischen Philanthropen, von allen Seiten geachtet, respektiert, geliebt.

Die Räumlichkeiten des „Naturfreunde“-Verlages lagen im Parterre und im ersten Stock. Hier fand man die Redaktionsräume, die Zimmer der Buchhaltung und der Produktion, des Vertriebes, der Grafik und jene des Geschäftsführers und seiner Sekretärin. Weiters gab es noch ein Archiv, eine Photokammer, ein Zimmer für den Postjungen, drei Küchen, eben alle einem Verlag eigenen Abteilungen. Verbunden waren sie durch den Hausgang und den weiten, dunklen, zur Sommerszeit aufgrund seiner Kühle äußerst beliebten Hausflur, an dessen Ende sich der Lift befand. Die Nutzung der Wohnungen vom zweiten bis in den sechsten Stock war ausnahmslos privater Natur, bewohnt von jungen Studentenpärchen, Familien mit Kleinkindern und Pensionisten. Die Bewohner dieses Haus und die hier Arbeitenden kannten sich wohl vom Sehen, man grüßte sich höflich, nickte dem anderen zu, doch wagte keinen Schritt näher, hegte auch kein sonderliches Interesse daran, zu geschäftig war die Welt der Arbeit und zu ruhebedürftig jene der Freizeit. Und so lebten diese beiden Welten zwar nebeneinander und streiften sich nur selten und für einen Augenblick, lebten aber doch in Einklang und gutem Auskommen.

Etwas mehr als zwei Jahre ist es nun her, dass an einem traumhaft-sonnigen Sommernachmittag Herr Planberger nach Stunden seelischer Labsal in einem Schanigarten eine Idee gebar, deren Verwirklichung eine großzügige Geste an die Mitbewohner des Hauses sein sollte. Von Stund´ an sollte jede Woche an jede Wohntür des Hauses ein Freiexemplar des „Naturfreund“ gehängt werden. Tiefe Freude empfand er bei diesem Gedanken und war längst schon zur heftigen Begeisterung gereift, als er, wieder in den Verlag zurückgekehrt, seiner Sekretärin davon erzählte. Man darf hier in seiner Entscheidung keinesfalls ein berechnendes Wesen vermuten, einen ihm daraus erwachsenden Vorteil. Sie entsprang einer unberührten Zufriedenheit und einem an diesem Tage gesteigerten Glücksgefühl. Er wollte einfach nur Gutes tun, auch um die Freude anderer Menschen wissen, die unerwartete Geschenke, seien sie auch noch so klein, stets entfachen.

Die Sekretärin leitete alles in die Wege und wahrhaft waren die Bewohner des Hauses angenehm überrascht, als sie am späten Donnerstag-Nachmittag, dem Tag der Anlieferung der Hausexemplare, eine Ausgabe des „Naturfreund“ vor ihrer Tür fanden. Und manch einer blätterte interessiert zum ersten Mal überhaupt in dieser Zeitschrift, die – dies nur nebenbei – sich im ganzen Land großer Beliebtheit erfreute. Alle sprachen sie ihren Dank aus, jedem Angestellten des Verlages, der ihnen im Hausgang über den Weg lief, der ihnen im Flur oder auf der Straße begegnete. Und stets versicherten die Angestellten lächelnd, den Dank an Herrn Planberger weiterzuleiten, natürlich mit den besten Empfehlungen und Glückwünschen. Doch trafen sie gar den Geschäftsführer persönlich an, so hätte wohl nicht mehr viel gefehlt und sie wären ihm unter ehrlich vergossenen Freudestränen in die Arme gefallen.

Das ganze Haus schien erwacht und überall war man voll des Lobes über den Verlag, über die Zeitschrift und vornehmlich über Herrn Planberger. Mochte es der alte Rechtsanwalt sein, der alleine im vierten Stock lebte, das junge Studentenpärchen aus dem zweiten Stock oder das Ehepaar aus der dritten Etage, das sich mit ihren vier Kleinkindern mühte. Jeder erinnerte sich eines „unglaublich interessanten“ Artikels und ergab sich im folgenden einer beinahe lückenlosen Wiedergabe, begleitet von einer hie und da eingeflochtenen persönlichen Meinung. Genoß Herr Planberger in den ersten Tagen noch die Aufmerksamkeit, die ihm aufgrund seines Geschenks zuteil wurde, so ermüdete sie ihn mit den Wochen. Und bald fand er sich darauf bedacht wieder, den Bewohnern des Hauses soweit wie möglich auszuweichen, sie zu umgehen, sich manchmal sogar vor ihnen hinter dem Lift oder einer Litfaßsäule zu verstecken. Doch wurde – welch Erleichterung – mit den weiteren Wochen immer häufiger auf dieses „Danke“ vergessen und wie zu früheren Zeiten einander stumm zugenickt. Das Leben im Haus hatte wieder seinen gewohnten Gang aufgenommen.

Vor etwa einem Monat beschloß Herr Planberger, von nun an keine Ausgabe des „Naturfreund“ zu verschenken. Dieser Entschluß entsprang jedoch keiner spontanen Laune heraus, sondern war in einer stetig wachsenden Verärgerung gereift. Denn immer öfter traten Menschen mit der Bitte auf ihn zu, ebenfalls ein kostenloses Exemplar der Zeitschrift zu erhalten. Die Menschen taten dies zumeist mit dem Nachsatz „Ein Exemplar mehr oder weniger, was macht das denn schon viel aus?“. Waren dies zuerst Bewohner der Nachbarhäuser, so riefen bald schon Freunde und Bekannte der Beschenkten an, wählten bedenkenlos irgendeine Durchwahl des Verlages und störten so die Arbeit aller Abteilungen nicht unbeträchtlich. Manch einer von ihnen wählte sogar die Nummer des Geschäftsführers und gab ihm, noch ehe dieser widersprechen konnte, Namen und Anschrift bekannt. Und immer fordernder wurden die Töne, die aus ihren Mündern erschallten, ließen den höflichen Bitton zusehends versinken.

Die Erklärungen der Verlagsangestellten, dass diese Geste nur für die Bewohner des Hauses gelte, wurde von den meisten ignoriert, überhört, einfach nicht akzeptiert. Und so riefen sie nach einigen Tagen wieder an und manch einer erboste sich, letzte Woche kein Exemplar vor seiner Haustür vorgefunden zu haben. Die Stimmung im Verlag wurde immer gereizter, die Angestellten hoben immer seltener den Hörer des Telefons ab und auch untereinander nahmen die Streitigkeiten bedenklich zu. Herr Planberger schien nach Jahren der Heiterkeit und des Lachens sein mürrisches Wesen entdeckt zu haben und immer öfter führte es ihn durch den Verlag. Doch wollte er noch Wochen und Monate nicht auf diese Geste verzichten; war es ihm Kampf, ein Ausloten seiner Grenzen. Bis ihm eines Tages keine andere Wahl mehr blieb. Auslöser für diese Entscheidung war der Anruf einer Hausfrau, die sich als gute Freundin einer im Verlagshaus wohnenden Familie ausgab. In herrischem Ton verlangte sie für sich und ihre drei im Ausland lebenden Schwestern ein allwöchentliches Exemplar. Dreimal hätte sie diesen Wunsch schon ausgesprochen und hatte der Verlag unverschämterweise ebenso oft nicht reagiert – nun sei ihre Geduld am Ende. Es könne doch nicht angehen, dass man in der Privatwirtschaft so faul und ohne Sorgfalt arbeite. Und wenn man dieses Mal ihrem Wunsch nicht entsprechen werde, könne sich der Verlag gewiss sein, eine Leserin verloren zu haben. Voller Unglauben lauschte Herr Planberger ihren Worten und versuchte im ersten Moment unter größter Kraftanstrengung logisches Verständnis für den Inhalt dieser Drohung aufzubringen. Doch mochte ihm dies nicht so recht gelingen.

Vielmehr begannen sich seine Gesichtszüge zu verfinstern und kopfschüttelnd stieß er die Worte jener Dame von sich, knallte wütend den Hörer auf das Telefon und ließ durch seine Sekretärin verkünden, von jetzt an kein einziges Exemplar mehr zu verschenken. Und so soll es bleiben „bis ans Ende meiner Tage“. Als die Angestellten von diesem Entschluß erfuhren, ging merklich ein erleichtertes Aufseufzen durch die Verlagsräume und stieg die Arbeitsqualität Leistung und Leben betreffend wieder in harmonische Höhen. Groß war die Überraschung der Hausbewohner, als sie am Donnerstag-Nachmittag erstmals seit fast zwei Jahren keinen „Naturfreund“ an ihren Türen fanden. Unzählige Male ging ein verwundertes „Oh“ oder „Ah“ durch das Haus; wie einem eben ungläubigen Geistes ein Laut entfährt, wenn man vor seiner Tür einen sechsbeinigen Elefanten vorfindet. Doch allmählich erlangten die Bewohner ihre Fassung wieder und wandten sich mißtrauisch an den Nachbarn. Und nun wurde damit begonnen, Zweifel zu erörtern und zerschlagen.
„Sie haben auch keine Ausgabe erhalten? Seltsam. Die werden doch nicht etwa auf uns vergessen haben?“
„Nein, sicher nicht. Die haben doch noch nie darauf vergessen.“
„Vielleicht ist diese Woche der „Naturfreund“ nicht erschienen?“
„Ich habe beobachtet, wie der Bote die Exemplare vor etwa einer Stunde ins Haus geliefert hat.“
„Vielleicht teilen sie die Zeitschriften heute etwas später aus.“
„Das war doch bisher noch nie der Fall.“