Anna

In einer kleinen Stadt bei Wien

In einem vor langer Zeit erloschenen Sommer arbeitete ich fern meiner Heimatstadt Wien in der Stadt I. Bei weitem besaß diese Stadt nicht die Größe und Dichte Wiens und es war auch kein flammendes Lichtermeer, in das sie des nächtens hinabtauchte, sondern einer jener unzähligen, kleinen Seen, die still in der Landschaft liegen und mit einem Blick zu erfassen sind. Das Schicksal war es, daß mich in diese kleine Stadt für diese Sommer verschlagen hatte und waren meine Vorbereitungen in Wien für diesen Aufenthalt noch von tiefer Wehmut und auch ein wenig Bitterkeit begleitet, so wurde ich schon vom ersten Tage an von dem ländlichen Hauch, der über der Stadt lag, verzaubert und erstaunt meinte ich, niemals vorher Häuser und Straßen friedlicher gesehen und erlebt zu haben. Erst hier in dieser Ruhe wurde ich der Hektik und Schnellebigkeit gewahr, welcher ich entkommen war und lächelnd entsinne ich mich des ersten Abends, an dem ich alleine auf der Terrasse meines kleinen Wohnhauses vor einer Tasse Tee saß und ehrfurchtsvoll die Gebirgskette betrachtete, die sich einen endlosen Horizont entlangzog. Die Menschen in dieser Stadt schienen eine Ruhe in sich zu tragen, die mir unbekannt war und jeder ihrer Schritte wirkte wohlüberlegt und bedacht. Ich lernte in dieser Stadt, dem Gesang der Vögel andächtig zu lauschen und mich an erblühenden Blumen zu erfreuen, wog jedes freundliche Wort mit glücklichem Maß und war alsbald von einer Zufriedenheit und Lebenswonne erfüllt, die auch meine Schritte besonnener und meine Gedanken klarer werden ließ. Und hatte mich die Düsterkeit meiner Heimatstadt an manch einsamen Abenden in eine Schwermut gestoßen, in der ich trüben Sinnens bedrückt nach Hause wankte, so genoß ich die süße Abendmelancholie jener kleinen Stadt und bettete mich warm in sie. Denn rein und unberührt erschien sie mir und nichts Böses trug sie in sich. In meinen Knabenjahren nahmen mich meine Eltern oft an Sonntagen zu ausgedehnten Spaziergängen in solch kleine Städte mit. Und war es mir damals grauenhafte Langeweile und Leblosigkeit, die in ihnen herrschte, so verstand ich erst im Angesicht jener Sommertage die zufriedenen und entspannten Gesichtszüge meiner Eltern an diesen Tagen.

Es war ein prachtvoller Sommer, der am Himmel hing, als ich diese Stadt betrat. Herrlich warm flutete die Sonne durch die kleinen Gassen und Straßen, still lächelten Bäume von dunkelgrünen Wiesen und wenn man um die geheimnisvolle Traurigkeit dieser schweigenden Giganten zu allen anderen Zeiten weiß, dann mochte einem bei ihrem Anblick fast das Herz vor Freude zerspringen. Die Menschen begegneten einander mit einem Lachen, Männer klopften sich freudig auf Schultern und plauderten gemütlich über dies und jenes, Frauen schoben gemächlich Kinderwägen vor sich her, Kinder ergaben sich aufgeregt ihrem Spiel und durchlärmten die Stadt mit ihrem hellen, reinen Freudesgesang. Jeder Mensch, jeder Vogel und jeder Baum schien vor Frohsinn zu bersten und erfaßt von dieser Kraft glaubte ich, in einen Jungbrunnen getaumelt zu sein und nie wieder wollte ich fort von diesem Ort. Denn als der sonnigste und herzlichste erschien er mir und frische Lebensfreude strich sanft über meine matt dahindämmernde Seele.

Das Schicksal trug das Gesicht meines alten Geschäftsführers, der mich mit überschwenglichen Worten einem Freund als rettenden Engel empfahl und alsbald auch zu ihm sandte. Seit beinahe zwanzig Jahren schon war ich in einem Verlag in Wien als Buchhalter tätig und durch mein Wissen vermochte ich es, diese scheinbar starre, festgefahrene Materie dennoch elastisch zu gestalten. Man mag mir jetzt als Buchhalter andichten, daß mein Leben im allgemeinen einem festen Fahrplan folgte. Nun, auf viele meiner Kollegen mag dies im Privaten zutreffen, doch zähle ich zu jenen, die freudig und unbesorgt durch das Leben gleiten und das Überraschende nicht als Bedrohung empfinden, heute nicht und auch in jenen Tagen kaum. Denn die Verantwortung meiner Arbeit damals glich nicht jener meines Lebens, sondern war nur Teil davon. Je nach Verfassung war sie mehr und war sie weniger. Schlußendlich bin ich doch Mensch, Buchhaltung hin, Buchhaltung her. Um die Vierzig Jahre war ich alt, als ich nach I. kam. Ich bewohnte zu dieser Zeit in Wien eine kleine Wohnung, die ich nach meinen Wünschen eingerichtet hatte und für mich eine Insel der Gemütlichkeit und Ruhe war, der Platz, an dem ich mich fallen lassen und erholen konnte. Ich hatte weder Frau noch Freundin, wodurch mir so manch dunkler Sturm erspart blieb und war froh darüber. An den Sonntagen besuchte ich meine Mutter, lauschte aufmerksam ihren Erzählungen über längst dahingeglittene Jahre und gegangene Onkel und Tanten, Großväter und Großmütter, und oft überkam mich in diesen Momenten ein Anflug von Traurigkeit, denn mein Leben lang wünschte ich still in mir einen Bruder oder eine Schwester an meiner Seite. Und so seltsam dies auch klingen mag, verhält es sich doch so, daß dies mit zunehmendem Alter immer stärker wird und die Aussichtslosigkeit meines Wunsches mich nicht selten trifft und in eine Zerschlagenheit stößt, der ich mich nicht erwehren kann. An vielen einsamen Abenden male ich das Bild meiner Schwester und meines Bruders, wie wir zu dritt durch einen verschneiten Wald spazieren, unsere Kinder an der Seite, die mit von der Kälte rotglühenden Wangen glückstrahlend zu uns aufblicken und mit ihren zarten Fingern unsere Hände umklammern, auf daß uns Familie nichts mehr trenne. Unzählige Male schlafe ich vor diesem Bild ein und stets umspielt ein zufriedenes Lächeln meine Lippen. Und doch werde ich tief in der Nacht von einer Kälte umfaßt, die mich erschreckt hochfahren und all die satten Farben dieses Bildes zerfließen läßt. Dies ist meine tiefste Sehnsucht, unter der ich leide und die stets einen dunklen Schatten über mein frohes Wesen legt. Meine alltäglichen Freuden zu jener Zeit bestanden darin, mit Freunden in der entspannten Atmosphäre eines Kaffeehauses zu plaudern, in einem guten Buch zu versinken oder meiner unbändigen Sammelleidenschaft zu frönen. Mit zwanzig Jahren hatte ich begonnen, Kerzen zu sammeln. Worin der Ursprung dieser Freude lag, vermag ich nicht mehr zu bestimmen. Wie vieles im Leben wurde es mir eines Tages zur Passion und verwunderte mich selbst, da ich kein sonderliches Interesse für Kerzen hegte, wohl aber am Sammeln. Und da jeder Mensch irgend etwas sammelt, so erschien es mir nicht abartig, sondern fügte ich mich diesem Zwang, der wohl schon ungeboren in mir herrschte. Es war auch jenes Alter, in dem ich in jenem Verlag meine Stelle als Buchhalter antrat. Fleiß und Geduld trugen mich flink von Sprosse zu Sprosse und innerhalb kurzer Zeit wurde mir die Verantwortung für diese Abteilung übertragen. So lebte ich dahin, mal gut, mal schlecht, litt und freute mich, lachte und weinte, ja, lebte einfach dahin und vergaß doch nie zu fragen. Mit den Jahren kam die Ruhe, mit den Antworten die Sicherheit, mit der Sicherheit die Bequemlichkeit. Aber nie schob ich Einsatz und Verantwortung achtlos beiseite, denn Lohn war mir mein sattes Leben. Und nicht glücklich, aber zufrieden dämmerte ich die Jahre dahin und mit jedem Kalender, der welk vom Tisch fiel, meinte ich, das Leben besser zu kennen und sank die Furcht vor dem Ungewissen und Überraschendem.

Die Arbeit im Verlag in I. gestaltete sich von Anfang an interessant und da ich von allen Seiten freundlich und zuvorkommend empfangen wurde, war mein Unbehagen schon in den ersten Tagen verschwunden und voller Eifer fraß ich mich freudig in meine Aufgabe. Ich erfuhr von jedem Angestellten Unterstützung, vom Geschäftsführer beginnend bis hin zum kleinen Postjungen, der oft geduldig eine Stunde länger blieb, nur um auf einen wichtigen Brief von mir zu warten. Nie wurde ich mich einem bösen Wort bedacht oder beiseite geschoben, sondern hatte stets das Gefühl, als sei ich ein willkommener Gast. Ich hatte es mir zu Angewohnheit gemacht, in meinen Mittagspausen ein kleines Café in der Straße aufzusuchen. Es lag unweit des Verlages, kaum fünf Minuten zu Fuß. Es war eine helles, gemütliches Café, in dem, auf einen großen Vorraum und ein kleines Hinterzimmer aufgeteilt, etwa zehn Tische standen. An den Wänden hingen farbenfrohe Aquarelle, in denen verschiedene Künstler die Schönheit der Gegend eingefangen hatten und aus einem Lautsprecher, der verborgen in einer Ecke stand, erklang leise beruhigende Musik. Die junge Kellnerin, die dort um die Mittagszeit immer ihren Dienst versah, hieß Fräulein Barbara und wie zu meinen neuen Kollegen hatte sich auch sehr bald zwischen uns eine Beziehung entwickelt, in der vom ersten Moment an etwas seltsam Vertrautes lag und die gegen Ende des Sommers hin zur tiefen Freundschaft gereift war. Sie mochte um die dreißig Jahre alt sein, trug langes, rotes Haar und stets ein Lächeln auf ihren kleinen Lippen. Selten in meinem Leben habe ich solch eine traumhafte Frau gesehen und trotz des hervorragenden Essens kamen nicht wenige Gäste alleine wegen ihrer Schönheit, um sie inmitten von Freunden mit einem verstohlenen Blick zu bedenken oder ein Lächeln von ihr zu erhoffen. Der Anblick solch einer Schönheit vermag ebenfalls sehr sättigend zu sein und so mancher Gast ging berauscht davon freudig in den Nachmittag, von dieser Schönheit in leeren Minuten heimlich naschend.

Hier in diesem Café begann auch jene Begebenheit, die mich an manch stillen Abenden schweren Gedanken nachhängen läßt und mir Arrogantem gezeigt hat, daß auch ich bis zu meinem letzten Atemzug eine längst vergessen geglaubte Fassungslosigkeit in mir trage. Jeder Mensch für sich ist ein tiefdunkles, weitverzweigtes Geheimnis, ein Labyrinth, in das er noch ungeboren fällt und dessen Enden er niemals erforschen wird, zu kurz ist das Leben und zu beweglich die Wege. Mit jedem Atemzug ändern sie sich, werden verschüttet und zugleich freigelegt. Tiefer Schmerz vollbringt dies ebenso wie ein einfach empfangenes Lächeln. Gleich einer wildgewordenen Schlange züngeln die Wege, lebendig und heiß, überschaubar und vorbestimmt, und führen doch im nächsten Moment schon in eine andere Richtung. Es ist unser Wesen, welches diese Wege bestimmt, es ist unser Wesen, das mit Angst und Trauer ringt, sich in Freude und Lust wiegt, es ist unser Wesen, das tiefbedrückt darniederliegt und himmelhoch jauchzt, mißt und wägt. Und so werden neue Abgründe aufgetan, Abgründe, die dunkler und tiefer niemals waren. Und ebenso werden sie mit Freude gefüllt, vertreibt ein heller Glanz die einst darin so furchterregend herrschende Dunkelheit. Doch zumeist ist es ein Gleichgewicht, welches das Wesen nicht zerbrechen läßt, gibt es dunkle und helle Abgründe in gleichem Maß, auch wenn man den dunklen schicksalshafte Bedeutung beimißt und auf die hellen allzuleicht vergißt. Ich weiß von keinem Menschen, dessen Schale dunkler Seiten auf der Waage des Lebens weit über jener der hellen schwebt. Selbst von weniger kritischen Menschen vermag ich dies nicht zu glauben. Mag diese Leichtigkeit in Kinderjahren noch vorhanden sein, so wird man sich ihrer später stets mit Wehmut erinnern und diesen warmen und heiteren Tagen nachtrauern, in demselben Maße, wie man damals versuchte, dieser Zeit zu entwachsen und sich seiner eigenen Füße zu besinnen. Aber viele Menschen, auf deren Wesen unzählige dunkle Schatten schwer drücken und die stumm für sich auf dieser Welt torkeln. Und in manchen Gesichtern dieser Menschen kann man davon lesen, denn keine Mühe dies zu verbergen geben sie sich, zu schwach oder gleichgültig sind sie in ihrem Unbehagen, ihrer Unzufriedenheit, ihrer Trauer. Und allmählich beginnen sie, auf ihre Umwelt zu vergessen und in ihren Abgründen zu versinken. Unnahbar wirken sie, vergraben und fremd, und man fühlt ein dunkles Geheimnis, das sie umgibt. Doch wenn die Neugier die Angst besiegt, besieht man sich diese Menschen verstohlen näher und für einen Augenblick vergißt man auf seine eigenen Kämpfe, denn langweilig und alltäglich erscheinen sie. Solch einen Menschen traf ich eines Tages in dem Café.

Ich war etwa drei Wochen in I., hatte mich sehr gut eingelebt und sah auf mich nicht ohne Stolz herab, denn es erschien mir (warum auch immer), als hätten diese Tage voller Frieden mein Wesen unendlich ruhiger werden lassen und wäre meine Weisheit ein großes Stück gewachsen. Ich saß zu Mittag an einem kleinen Tisch gleich neben der Tür und blätterte in einer Tageszeitung. Das Café war bis auf den letzten Tisch gefüllt und Fräulein Barbara hetzte von Gast zu Gast, nahm Bestellungen auf und brachte Speisen und Getränke. Die meisten der Gäste kannte ich vom Sehen und manch einer nickte mir beim Betreten freundlich zu. An diesem Nachmittag erschien ein Mann, den ich niemals zuvor gesehen hatte. Er trat in das Café und nach einem freien Platz Ausschau haltend blickte er beinahe sorgenvoll um sich. Schon wollte er sich umdrehen und das Café verlassen, da sprach ihn Fräulein Barbara an und deutete in meine Richtung. Der Mann warf mir einen abwägenden Blick zu, dann nickte er und folgte ihr an meinen Tisch. ”Entschuldigen Sie, aber könnte sich dieser Herr an Ihren Tisch setzen” wandte sie sich mit einem Lächeln an mich. In freundlichem Tone antwortete ich ”Aber gerne”, dann widmete ich mich wieder meiner Zeitung. Beinahe flüsternd sprach der Mann ein Dankeswort, nahm Platz und bestellte eine Tasse Tee. Er mochte etwa in meinem Alter sein, trug unter seinem langen, hellbraunen Mantel einen feinen Anzug und wirkte auch im Gesicht und an den Händen sehr gepflegt und ordentlich. Ich weiß nicht, wie lange ich in meiner Zeitung gelesen habe, mochte es eine Minute oder deren zehn gewesen sein, jedenfalls war es mir nach einer Zeit, als wäre über den Rand meiner Zeitung etwas Unruhiges, Rastloses zu mir gekrochen gekommen. Ich spürte, daß die ruhige, entspannte Atmosphäre des Lokals eine merkwürdige Unterbrechung erfahren hatte und meine Vermutung über deren Ursprung ließ mich seufzend meine Zeitung ein wenig zur Seite schieben und einen Blick auf den Mann werfen. Stumm saß er da und sah aus dem Fenster auf die Straße. Aber er schien bedrückten Gedanken nachzuhängen und leer glitten seine Augen in eine geheimnisvolle Welt. Seine Hinfortschweifen ließ mich in Sicherheit wiegen und aufmerksam betrachtete ich sein Gesicht. Es war eine schmales, blasses, bartloses Gesicht, in dem hart hohe Wangenknochen die glatte Haut spannten und erlittenen Kummer und tiefschneidende Sorge verrieten. Seine Stirn war von tiefen Furchen durchzogen, seinen hageren Lippen schien alles Volle verloren und beinahe leblos und durchsichtig wirkten sie. Sein kurzes Haar, am Morgen wohl ordentlich zum Scheitel gekämmt, war ein wenig durcheinandergeraten und ließ auf einen bewegten Vormittag schließen. Der Mann machte einen schwächlichen Eindruck, als hätte er an einer Krankheit, an einem Unwohlsein schwer zu leiden oder wäre gar auf der Flucht. Von einer Unruhe erfüllt spielten seine Finger unaufhörlich mit einem Bierdeckel, drehten und wendeten ihn, ließen ihn fallen und hoben ihn auf. Er atmete schwer und tief und ab und zu verzog er für einen Augenblick seine Mundwinkel zu einem Lächeln, in dem ich ein Zeichen einer geheimnisvollen Resignation widergespiegelt zu sehen glaubte. Die Anspannung, die in ihm herrschte und beinahe giftig an mich drang, verleidete mir das Lesen und achtlos legte ich die Zeitung beiseite. Da ich schon gegessen hatte, beschloß ich, zu bezahlen und den Rest meiner Pause mit einem kleinen Spaziergang ausklingen zu lassen. Ich wollte schon nach Fräulein Barbara winken, als er plötzlich murmelnde Laute von sich gab. Jedoch konnte ich nur verstehen wie er mehrmals ”Nicht mehr” wiederholte. Dann schüttelte er heftig den Kopf und stieß ein kurzes gequältes Lachen aus. Ich fühlte ein dumpfes Unbehagen in mir aufsteigen und wollte nur noch weg von diesem Mann, denn schon erkannte ich, wie die Harmonie dieses Tages ihre ersten Risse bekam. Ich war verwundert darüber, denn selten konnte mir ein übelgelaunter Mensch den Tag oder die Stunde verderben. Aber bei diesem Mann war es anders. Ich konnte nicht sagen, daß er schlechtgelaunt war, wußte nicht, ob er krank war oder einfach nur mit einem Problem rang, daß vielleicht seine Familie oder die Arbeit betraf. Es war irgendwie alles und doch nichts von alledem. Nein, das Unbekannte war es, daß mich mit Furcht erfüllte und vorsichtig werden ließ. Und doch stieg auch meine Neugier und ich überlegte, ein zwangloses Gespräch zu beginnen und auf den Spaziergang zu verzichten. Den Vormittag war ich in eintönige Arbeit versunken und auch der Nachmittag würde nicht spannender werden. Dieser Mann erschien mir als das einzig Interessante des Tages und hatte ich mich noch kurz zuvor in einem Ringen befunden, Gespräch oder Spaziergang, so war nun klar, daß ich diesen Mann kennenlernen wollte. Und als ich diesen Entschluß gefaßt hatte, spürte ich, daß allmählich meine Ruhe wiederkehrte und dieser Mann nun anders an mich drang. Nicht mehr der unangenehme Tischnachbar war er, sondern den Becher meiner Neugierde füllte er und voller Vorfreude griff ich danach.

”Entschuldigen Sie, mein Herr” wandte ich mich höflich an ihn, ”haben Sie mit mir gesprochen? Ich war in meine Zeitung vertieft und erinnere ich mich jetzt gemurmelter Worte.”
Ich biß mir verärgert auf die Lippen, denn dümmer hätte ich wohl meine ersten Worte nicht gestalten können. Aber er schien meinen Ärger nicht zu bemerken. Aus großen schwarzen Augen starrte er mich an und ich vermeinte, eine tiefe Müdigkeit in ihnen liegen zu sehen. Er schwieg einen Moment, dann formten sich seine Lippen zu einem zaghaften Lächeln und mit ruhiger Stimme sprach er: ”Nein, mein Herr, es liegt an mir, mich zu entschuldigen. Ich war in Gedanken versunken und pflege dann zumeist zu mir selbst zu sprechen. Es ist eine Unart, die ich aber leider nicht ablegen kann.”
”Ach, da gibt es unangenehmer Unarten” winkte ich lächelnd ab und suchte im Geiste hastig nach einem neuen Gesprächsfaden.
”Sind Sie zum ersten Mal in diesem Café? Ich habe Sie hier noch nie gesehen?”
Der Blick des Mannes wurde wieder ernst. ”Ich wohne in I. ” antwortete er, ”aber ich verlasse nur selten mein Haus.”
Er senkte seinen Kopf und warf verschüchterte Blicke in den dunklen Tee. Ich spürte, das er einem Gespräch nicht abgeneigt war, erkannte jedoch auch eine Bedrücktheit, die es ihm schwerfallen ließ, eine Frage zu stellen und deretwegen er sich ein wenig schämte.
”Ein herrliches Wetter haben wir diesen Sommer, nicht wahr?” setzte ich das Gespräch fort.
Er hob seinen Kopf und sah aus dem Fenster. ”Sommer, achja, wir haben Sommer” erwiderte er zerstreut. ”Ja, schöne Tage” fügte er nach einer kurzen Pause noch hastig hinzu, aber einsilbig und leer drangen die Worte aus seinem Mund.
”Es sind schöne Tage, wie man sie lange nicht mehr gesehen hat. Arbeiten Sie hier in I.?”
”Nein. Ich bin zur Zeit ohne Arbeit.”
Ich stieß ein verdutztes ”Oh” hervor und fürchtete, eine Wunde berührt zu haben, jedoch verriet er mit keiner Miene Ärger oder Traurigkeit.
”Ich arbeite in dem kleinen Verlag an der Ecke der Straße. Vor drei Wochen bin ich von Wien gekommen und werde wohl den ganzen Sommer hier tätig sein. Dann gehts wieder zurück nach Wien.”
”Ah, der kleine Verlag” stieß er hervor”, ja, ich kenne ihn.”

Er war wieder seltsam unruhig geworden und hatten seine Finger auf das Spiel mit dem Bierdeckel für einen Moment vergessen, so ergaben sie sich jetzt nur noch heftiger darin. Nervös sah er sich immer wieder nach allen Seiten um. Den Eindruck eines Gehetzten machte er, eines Flüchtenden, der für einen Moment in heiterer Geselligkeit unterschlüpfen wollte, um doch zu erkennen, daß auch diese keinen Schutz bieten konnte. Nun schien er meine Anwesenheit, mein ihm entgegengebrachtes Interesse als störend zu empfinden und trotzig wandte er seinen Kopf nach allen Richtungen, nur nicht mehr in meine. Wie ein Schulkind begann er auf seinem Sessel zu schaukeln und ich bemerkte ein leichtes Frösteln, das ihn durchfuhr. Seine magere Gestalt wogte disharmonisch zu den dumpfen Lauten des Cafés und sein Geist schien von sturmerfüllten Gedanken an einen fernen Platz geweht. Mehrmals räusperte ich mich, doch war es mir unmöglich, ihn seinem tiefen Sinnen zu entreißen. Erst ein Gast, der daß Lokal verließ und ihn im Vorbeigehen unabsichtlich streifte, ließ ihn erschreckt hochfahren und verwundert um sich blicken. Als er meiner gewahr wurde, senkte er seinen Kopf und beinahe flüsternd sprach er: ”Entschuldigen Sie, ich bin wohl in Gedanken versunken gewesen und habe auf Sie vergessen.”
”Tagträume” lächelte ich ihn an und versuchte, ihm einen Teil seiner Befangenheit zu nehmen.
”Tagträume, wie auch ich in mancher Minute solch einem nachhänge.”
”Ja” lächelte er mich unsicher an, fügte dem aber nichts hinzu.
”Und Sie leben mit Ihrer Familie hier in I.?” zerriß ich die Stille, die nun merkwürdig schwer auf dem Tisch lastete. Da wurde sein Blick plötzlich ernst und schwankend erhob er sich. ”Meine Familie” murmelte er und eine kränkliche Blässe durchzog sein helles Gesicht. Er stützte sich mit der rechten Hand auf den Tisch, mit der linken griff er an seine Stirn und mir war, als wäre in seine matten Augen mit einem Schlag Leben gefahren und würden mir kleine Tränen entgegenglänzen. Erschrocken sah ich zu ihm und wollte etwas sagen, da trat er auch schon auf den Gang, nahm seinen Mantel und verließ hastig das Café. Ich sah ihm durch das Fenster schweigend nach. Eilig lief er die Straße entlang und tauchte dann ohne sich umzublicken in eine kleine Seitengasse ein. Ich verfluchte mich und es war mir auch unangenehm, daß ich in einer Wunde gerührt hatte, in das berühmte Fettnäpfchen gestiegen war, wenn auch ungewollt und unwissentlich. Es muß ein Trauerfall in der Familie vorgefallen sein, dachte ich mir, ein Trauerfall, der nicht lange zurückliegt. Dies erklärt auch sein unruhiges, nervöses Verhalten. Fräulein Barbara kam an meinen Tisch und erboste sich: ”Das haben wir schon gern. Tee trinken und dann nicht bezahlen. Ich habe gar nicht bemerkt, daß er das Café verlassen hat. Aber ich kenne ihn. Der läuft mir nicht noch einmal davon.”
”Nein, Fräulein Barbara” besänftigte ich sie, ”ich habe den Herrn eingeladen.”
”Ach, wenn das so ist …” erwiderte sie beruhigt.
”Was wissen Sie von dem Herrn” fragte ich und blickte erwartungsvoll zu ihr hoch.
”Nicht viel” antwortete sie und sah aus dem Fenster, ”er wohnt am Ende der Hauptstraße Richtung Z. in einem kleinen, schäbigen Haus mit seiner Frau und seiner Tochter. Sie sind letztes Jahr hierher gezogen, im Frühling, ja, im Frühling muß es gewesen sein. Das Haus stand lange Zeit leer, niemand wollte es. Aber auf alten Photos habe ich gesehen, daß es einst ein traumhaft schönes Haus war. Jedoch, nachdem die Besitzer vor Jahren von hier fortgezogen sind, verfiel es zusehends. Oft habe ich mir gewunschen, darin zu wohnen. Sie bezogen das Haus und manchmal habe ich ihn oder seine Frau im Garten gesehen. Eine seltsame Familie, denn meinen Gruß haben sie stets schüchtern erwidert und kein Gespräch konnte ich mit ihnen beginnen. Die Tochter selbst habe ich nur ein einziges Mal gesehen. Ein nettes Mädchen, aber ebenso stumm und ernst wie seine Eltern. Und dann, es muß letzten Sommer oder Herbst gewesen sein, verschwand er plötzlich und kam erst vor kurzem wieder in die Stadt. Mehr weiß ich nicht über sie und auch niemand anderer, der zu mir ins Café kommt. Er war heute überhaupt zum ersten Mal hier. Mehr weiß ich leider nicht.”
Ich bezahlte die Rechnung und verließ das Café. Goldglänzend ergoß sich die Sonne über die Stadt und ich wanderte auf einer hellen Straße eine rotgestrichene Häuserzeile entlang, deren Fenster sonnenfunkelnd die Lider für einen Moment schwer werden ließen und so vor dem Gleißen schützte. Doch zu vertieft schwelgte ich in Gedanken, als das auch nur ein warmer Strahl an mir rühren konnte. Den ganzen Nachmittag und auch am Abend mußte ich an den Mann denken, an sein Verhalten und sein Schicksal. Er erschien mir in dieser Stadt, die ich schon nach einigen Tagen kennengelernt hatte, als etwas Neues, etwas Interessantes, wie eine Schatztruhe, die es zu bergen galt. Und wilde Vermutungen über den Inhalt tropften still von meinen Lippen.

Einige Tage waren seit jener Begegnung vergangen. Ich war mittlerweile mehr als vier Wochen in I. und dank meiner ausgedehnten Abendspaziergänge war mir jeder Winkel der Stadt vertraut. Auch die Aufgeregtheit in der Arbeit war vollends verschwunden und manchmal meinte ich, hier aufgewachsen zu sein und es wäre Wien gewesen, das mich vor langer Zeit für einen kurzen Aufenthalt dieser Stadt entrissen hatte. Auch auf den Mann hatte ich vergessen. Jedoch muß ich hier gestehen, daß ich am Abend jener Begegnung die Hauptstraße bis zum Haus des Mannes entlanggewandert bin. Ich fand mich vor einem einstöckigen Haus mit einem kleinen Vorgarten wieder. Gleich dahinter begann der Wald, der dicht und dunkel den sich hoch auftürmenden Berg anstieg und in fernen Höhen verlor. Der Garten war ungepflegt und verwildert und hatte etwas Unnahbares, Kaltes an sich. Das Haus selbst schien ebenfalls verkommen. An manchen Stellen war der gelbe Putz abgeblättert und an der Gartentür hing ein Schild, nur noch von einem Nagel gehalten und vom Wind sanft geschaukelt. Ich las die Aufschrift, um den Namen zu erfahren, doch zu meiner Enttäuschung stand auf diesem nur die humorig gehaltene Bitte, den Postkasten nicht mit Werbematerial zu füttern. Die Abenddämmerung kroch langsam über die Stadt, als ich still dastand und das Haus betrachtete. Es brannte kein Licht und ich vermutete, daß niemand anwesend sei. Ich mochte etwa zehn Minuten dagestanden haben, mit in den Taschen meines Mantels vergrabenen Händen und wollte mich gerade zum Gehen wenden, da bemerkte ich, wie im ersten Stock Licht anging. Neugierig sah ich nach oben und wartete eine Weile. Ein dunkler Vorhang war vorgezogen, durch den matt das Licht an die Dunkelheit drang. Minuten verrannen, ohne das sich etwas tat. Ein wenig enttäuscht trat ich auf die Straße und wollte mich heimwärts begeben, da öffnete sich plötzlich die Tür und ein kleines barfüßiges Mädchen, kaum älter als fünf Jahre, trat zögernd aus dem Haus. Mit ihren Händen hielt sie einen großen Papierkorb umklammert und vorsichtig nach beiden Seiten blickend stieg sie langsam die weißen Steintreppen hinab. Als sie von der letzten Stufe in den Kies sprang, sah sie auf und erblickte mich. Sie verharrte einen Moment und warf mir aus großen, blauen Augen ein verschüchtertes Lächeln zu. Gleich einem Engel zierten ihr Haupt goldgelbe Locken, saßen frech Sommersprossen auf ihrer kleinen Nase und waren die Wangen von einem hellen Rot durchzogen, daß dieses kleine, rundliche Kindergesicht in eine Madonnenhaftigkeit tauchte, die mich tief berührte. Zerbrechlich wie ein Staubgebilde wirkte sie in ihrem roten Kleidchen, daß bis zu den Knien reichte und hinter dem die Enden einer großen, weißen Masche hervorstanden. Unschlüssig über den nächsten Schritt stand sie da und sah zu mir. Ihr Lächeln verschwand und eine Ernsthaftigkeit legte sich über ihr Gesicht, eine Ernsthaftigkeit, über die ich sehr erschrak und wie ich sie nie zuvor und auch niemals danach an einem Kind gesehen habe. Für einen kurzen Moment wandte sie ihren Blick von mir ab und sah sorgenvoll zu dem großen schwarzen Mülleimer, der am Tor stand. Doch gleich darauf spiegelte sich meine Gestalt in ihren Augen wieder. Ich spürte ihre Angst und um sie zu beruhigen sprach ich mit freundlicher Stimme: ”Hallo”.
Sie neigte ihren kleinen Kopf zur Seite und erwiderte leise: ”Hallo”, tat aber keinen Schritt in meine Richtung.
”Wie heißt du denn” fragte ich.
”Anna” erwiderte sie und plötzlich huschte ein entsetzter Ausdruck über ihr Gesicht, als hätte sie ein Geheimnis preisgegeben, daß zu hüten ihr aufgetragen worden war. Weit stieß sie den Korb von sich und rannte hastig die Treppen hinauf. Verwundert sah ich ihr nach, wie sie in das Haus schlüpfte und die Tür eilig hinter sich zuwarf. Ein leichtes Schuldgefühl stieg in mir auf, dieses kleine Mädchen erschreckt zu haben und schnell trugen mich meine Füße fort von diesem Haus. Nach einiger Zeit wurden meine Schritte wieder ruhiger und an das kleine Mädchen denkend spazierte ich gemächlich meinem Heim entgegen. Kam mir das Mädchen diesen Abend kaum mehr aus dem Sinn, so dachte ich in den nächsten Tagen immer seltener an diese Begebenheit und irgendwann vergaß ich über die Alltäglichkeiten des Lebens, denen ich mich widmen mußte, völlig auf diesen Mann und auf Anna.

Wieder saß ich eines Mittags in dem Café und trank wie gewohnt meinen Kaffee nach einer üppigen Mahlzeit. Vor mir auf dem Tisch lag ausgebreitet eine Tageszeitung und interessiert las ich einen Artikel über ”Den grünen See”, eine, wie mir erschien, Phantasterei eines jungen Wissenschaftlers. Das Café war wie zumeist um diese Zeit bis auf den letzten Platz gefüllt und von allen Seiten her strömte Lachen und lautes Geplauder. Ich mochte die Lebendigkeit dieses Ortes, entriß sie mich doch für kurze Zeit meinem stillen Zimmer, in dem ich allein saß, verschüttet von Rechnungen und Bilanzen. Als ich mir in der Zeitung das Bild des Wissenschaftlers ansah und versuchte, in seinem Gesicht den Eifer und Mut zu lesen, den er für seine Idee aufbrachte, drangen plötzlich leise Worte an mich.
”Entschuldigen Sie, mein Herr, ist an Ihrem Tisch noch Platz.”
Ich sah von meiner Zeitung auf und blickte in das Gesicht jenes Herren, auf den ich in den letzten Tagen vergessen hatte. Wie ein Blitz flammte die Erinnerung an ihn wieder auf. Lächelnd deutete ich zu einem Sessel und sprach mit freundlicher Stimme: ”Bitte sehr.”
Er bedankte sich, legte seinen Mantel ab und nahm dann Platz. Fräulein Barbara erschien und wie beim letzten Mal bestellte er schwarzen Tee. Seinen Bewegungen waren ruhig und aufmerksam betrachtete er mich.
”Ich hatte gehofft, Sie hier anzutreffen. Ich möchte mich für meinen Abgang vor einigen Tagen bei Ihnen entschuldigen und auch die Rechnung muß ich hier noch begleichen.”
”Das habe ich für Sie erledigt” erwiderte ich.
”Ich wußte es” sprach er lächelnd, ”und als Dank seien Sie heute mein Gast.”
Abwehrend hob ich die Hand, aber er bestand darauf und so ergab ich mich alsbald seiner Bitte. Doch durch diese Einladung entstieg tief aus mir ein Schuldgefühl und mit ernster Stimme entschuldigte ich mich meiner Worte, die ihn vertrieben hatten.
”In Ihrer Trauer über einen Todesfall in der Familie habe ich Sie wohl tief berührt” sprach ich, nicht aus mangelndem Takt, sondern weil ich etwas erfahren wollte. Eine gemeine Berechnung lag dem zugrunde, eine Verwegenheit, die mich verwunderte und für die ich mich ein wenig vor mir selbst schämte. Aber wollte ich mehr von ihm erfahren, so war dies der Weg, zumindest vermeinte ich dies.
”Todesfall?”
Verwundert sah er mich an.
”Es gab keinen Todesfall in meiner Familie.”
”Ach so” antwortete ich überrascht, ”ich dachte … nun … Sie wirkten ein wenig”, ich räusperte mich und fuhr dann von aufmerksamen Augen verfolgt fort, ”nun … Sie wirkten ein wenig verwirrt … beinahe aufgelöst … und so dachte ich …”
”An einen Todesfall in meiner Familie” beendete er mit ernster Miene den Satz.
”Ja” stieß ich hervor, ”das kam mir in den Sinn.”
Und plötzlich dachte ich an Anna und wollte ihn fragen, ob sie seine Tochter sei. Doch irgendetwas hielt mich davor zurück und so verschwieg ich diese Begegnung. Fräulein Barbara brachte den Tee und verschwand lächelnd wieder hinter der Theke. Der Mann sah ihr schweigend nach, dann zog er gedankenverloren den Teebeutel im Kreise. Ich nutzte das Schweigen und faltete sorgfältig die Zeitung zusammen. Ein Gast erschien und bat darum. Ich reichte sie ihm und sah dann wieder zu dem Herrn. Immer noch hing er seinen Gedanken nach und mir war, als wäre er wieder von jener Unruhe erfaßt, die ihn das letzte Mal gefangen hatte. Unablässig drehten seine Finger das Häferl und wieder verlor sich sein Blick im dunklen Tee. Ohne aufzublicken wandte er sich plötzlich an mich: ”Darf ich Sie etwas fragen?”
”Nur zu” antwortete ich gespannt.
”Hält Sie irgendetwas gefangen? Etwas, das Sie an sich verabscheuen, etwas, vor dem Ihnen ekelt und das Sie doch nicht abschütteln können?”
Verwundert sah ich ihn an.
”Was meinen Sie” fragte ich.
”Eine … hmm … eine Eigenschaft, ein Charakterzug, irgendetwas, das Ihnen mißfällt, von dem Sie sich wüschen, es nicht zu besitzen. Neid, notorische Lüge, Gier, Nägelbeißen, Schnarchen oder Rauchen, was auch immer.”
Bei seinen letzten Worten mußte ich lächeln. Er sah auf und maß mich mit ernstem Blick.
”Meine Frage war keineswegs scherzhaft gedacht. Wissen Sie, daß Sie der erste Mensch seit langer Zeit sind, zu dem ich spreche? An den ich mich wenden kann, weiß Gott, warum. Ich kenne den Grund nicht. Höchstwahrscheinlich ist es jener, daß Sie mir unbekannt sind, nicht von hier stammen und auch bald wieder diese Stadt verlassen.”
Verzweiflung schwang in seinen Worten mit und verlegen senkte ich meinen Kopf.

”Nun, ich weiß nicht … hmm …”
”Lassen Sie nur gut sein” unterbrach er meine Suche seufzend, ”lassen Sie nur gut sein.”
Ich hob meinen Kopf und eine leichte Verwirrung mußte in meinem Gesicht gestanden haben, denn mit einem geheimnisvollen Lächeln betrachtete er mich und nahm einen Schluck Tee. Aber ich sah, wie seine Hand leicht zitterte und in seinen Augen eine merkwürdige Unsicherheit loderte.
”Was bedrückt Sie denn so” fragte ich ein wenig ärgerlich, denn langsam wurde ich es leid, im Ungewissen zu tappen und keinen Schritt vorwärts zu kommen.
Wieder seufzte er tief und begann, nervös auf seinem Sessel hin und her zu rutschen.
”Sie würden es nicht verstehen” antwortete er.
”Das müssen Sie schon mir überlassen.”
”Nein, mein Herr, damit machen Sie es sich zu einfach. Ein Gefangener bin ich und nur ich besitze den Schlüssel, der in unsere Freiheit führt.”
”Unsere” fragte ich erstaunt. Er sah mich überrascht an, dann schüttelte er seinen Kopf und blickte aus dem Fenster.
”Ja, unsere” sprach er mit leiser Stimme und schloß seine Augen. Eine Weile saß er so schweigend da, dann fuhr er herum und blickte zu den Tischen in dem Café.
”Mit jedem hier würde ich tauschen wollen, mit jedem hier.”
”Mir ist der Grund unbekannt, daher mag ich nicht urteilen darüber.”
”Glauben Sie es mir einfach” flüsterte er und griff sich plötzlich an seine Brust.
”Fühlen Sie sich nicht wohl” fragte ich besorgt.
Er atmete einige Male tief ein, dann ließ er die Hand langsam auf den Tisch gleiten.
”Danke, es geht schon wieder. Es ist ein Stechen im Herz, daß mich manchmal schmerzt. Es war schön, Sie wieder getroffen zu haben. Ich wollte mich, wie eingangs erwähnt, bei Ihnen für mein Verhalten beim letzten Mal entschuldigen.” Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: ”Und vielleicht hatte ich etwas erhofft, aber ich war wohl zu gierig danach.”
Einen schnellen Gruß auf den Lippen erhob er sich, ging zur Theke und bezahlte die Rechnung. Er nickte mir im Vorbeigehen noch stumm zu, dann verließ er das Café und verschwand wieder in jener Seitengasse, die ihn schon vor Tagen verschluckt hatte. Nachdenklich trank ich meinen Kaffee zu Ende und trottete von einer merkwürdigen Gleichgültigkeit erfüllt meiner Arbeitsstätte entgegen. Wieder hatte dieser Mann meine Gedanken um sich geschart und wie ein aufgescheuchter Vogelschwarm wirbelten sie wild um ihn und um die geheimnisträchtigen Worte, die er gesprochen hatte. Was meinte er mit jener Hoffnung und warum fragte er mich nach etwas, daß mir an mir selbst mißfiel, daß ich nicht leiden konnte und doch unfähig war, abzulegen. Rätseln waren aus seinem Mund geflossen und ich spürte, daß hierin der Schlüssel zu seinem Geheimnis lag. Lang und endlos war die kommende Nacht, denn nach einer Erklärung, nach einer Antwort suchte ich, aber je verzweifelter ich mich darin verlor, desto größer wurde meine Verwirrung und erschöpft fiel ich in den frühen Morgenstunden in einen unruhigen Schlaf.

Es sollten wieder einige Tage vergehen, eine Woche oder auch zwei, bis ich ihn zu Gesicht bekam. Doch war es nicht Mittags, sondern später Nachmittag, als wir uns begegneten. Ich war an diesem Tag früher von der Arbeit gegangen, da mich eine tiefe Müdigkeit übermannt hatte nicht allzuwichtige Arbeiten auf meinem Tisch auf Erledigung warteten. Ich beschloß, daß Café aufzusuchen und dort etwas zu trinken. Groß war meine Verwunderung als ich eintrat und den Mann an einem Tisch sitzend erblickte. Kein Gast außer ihm befand sich in dem Café. Ein junger Mann stand gelangweilt hinter der Theke und blätterte in einer Zeitschrift. Langsam hob er den Kopf und mit müder Stimme begrüßte er mich. Ich nickte ihm zu, dann sah ich wieder zu dem Mann. Er hatte mich bemerkt und mit hastigen Bewegungen winkte er mich lachend an seinen Tisch. Ich legte den Mantel ab und ging zu ihm. Als ich auf einem Meter nahe gekommen war, stand er auf und umarmte mich wie einen guten Freund.
”Wie freue ich mich, Sie zu sehen” sprach er und eine dichte Wolke, die nach Wein und Bier roch, umschwebte mich. Verwundert von der breiten Herzlichkeit, mit der er mich empfing, setzte ich mich an den Tisch und bestellte eine Tasse Kaffee.
”Endlich habe ich mich zu einer Lösung durchgerungen” lachte er und streckte jubelnd beide Armen in die Höhe.
”Zu einer Lösung” fragte ich verwundert.
”Ein Ende ist in Sicht, jawohl, ein Ende” lachte er mich an, dann wurde seine Miene plötzlich finster und seufzend fügte er hinzu: ”Welch befreienden Klang doch dieses Wort besitzt.”
Er sah einen Moment nachdenklich zu Boden, dann schob er seine Gedanken mit einer Handbewegung weit von sich und blickte mir glückstrahlend entgegen.
”Ja, nun gehe ich dem Ende entgegen.”
”Von welchem Ende sprechen Sie” fragte ich interessiert.
Wieder wurde sein Blick ernst und langsam beugte er sich weit über den Tisch. Er sah mir tief in die Augen und eine Feierlichkeit schwang in seinen Worten mit, als er flüsternd sprach: ”Ich spreche von meinem Ende.”
”Nun, entschuldigen Sie,” lächelte ich verlegen, ”aber das klingt alles ein wenig morbid. Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht folgen. Oder sagen wir, ich hege einen Verdacht, dem ich nicht folgen möchte.”
”Selbstmord” lachte er laut auf und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. ”Nein, davon spreche ich nicht. Dafür bin ich viel zu stolz.”
”Wenn Sie mir erklären, worum es eigentlich geht, dann kann ich Ihren Worten folgen. Verstehen Sie, ich stehe im sprichwörtlichen Regen. Ja, es scheint mir, als würden Sie zu sich selbst sprechen und nicht zu mir.”
Seufzend trank er sein Glas Bier leer und deutete dem Kellner, ein weiteres zu bringen und zudem ein Glas Wodka. Er lehnte sich zurück und verschränkte seine Arme hinter dem Kopf. Den Blick auf die Decke gerichtet begann er mit leiser Stimme zu erzählen.
”Unhöflich bin ich, ja, Sie haben recht. Unhöflich war ich mein ganzes Leben, ach, Unhöflich, welch nichtssagendes Wort.”
Er seufzte wieder laut auf, dann ließ er seine Hände auf den Tisch fallen und sah mich mit traurigem Gesicht an.
”Ich möchte Ihnen etwas erzählen. Es ist nur eine Kleinigkeit, es ist nur meine Geschichte. Ich weiß nicht, warum gerade Sie es sind, der mein Verlangen danach weckt, weiß nur, daß dies außer Ihnen noch niemand vollbracht hat und nach Ihnen wohl auch kein Menschen vollbringen wird. Einmal nur werde ich sie erzählen, einmal nur möchte ich sie aus meinem Mund hören, wie ein unbeteiligter Zuhörer, der mit den Worten mitfiebert oder an den sie stumpf dringen. Und Sie brauchen auch keine Angst haben, daß ich Sie hier für Stunden festhalten. Nein, ich werde nur soviel erzählen, wie ich als notwendig erachte. Ich zeichne Ihnen meine Konturen und werfe ein kleines Kerzlein in diese Dunkelheit. Es wird schon im nächsten Augenblick wieder erloschen sein, aber ich gewähre Ihnen einen unendlich langen Einblick in … tja … in mich. Doch was Sie sehen werden, daß vermag ich nicht zu sagen.”
Er schwieg einen Moment, dann räusperte er sich und fuhr mit ernster Stimme fort: ”Nun, ich bin das, was man gemeinwohl einen schlechten Menschen nennt.”
Abwehrend hob er seine Hand.
”Bitte wenden Sie jetzt nicht ein, daß dies ein äußerst weitläufiger Ausdruck sei. Nein, nehmen Sie es einfach so an, wie ich es gesagt habe. Das Nähere werden Sie schon noch erfahren. Ja, ich bin ein schlechter Mensch. Dies kann ich wunderbar verstecken, denn gute Manieren und ein freundliches Lächeln sind mir immer treue und hilfreiche Begleiter. Viel zu oft und viel zu leichtfertig wird einem stillen, in sich gekehrten Menschen, der schweigend durch diese Welt wandert und auf Worte vergißt, der Makel der Unhöflichkeit angehaftet, die in einem Zimmer unter dem Dach ”schlecht” haust. Ich denke, daß Höflichkeit die leichteste Form von Intelligenz darstellt. Danke und Bitte sagen kann jeder Mensch, grüßen ebenfalls und womöglich fließt ihm noch das eine oder andere freundliche Wort aus dem Mund. Man tut solchen stillen Menschen oft Unrecht. Denn man darf sich darüber kein Urteil erlauben, vergißt auf zuvieles. Gleichwohl wie dem Arroganz und Desinteresse zugrunde liegen kann es sich auch um Schüchternheit, Aufgeregtheit, Zerstreutheit, Unbehagen, Nachdenklichkeit und vieles mehr handeln. Manches davon mag den Menschen nur für einen Bruchteil seines Lebens streifen, ”er lachte kurz auf, ”an den sogenannten schlechten Tagen, und dann meint man schon, ihn zu kennen, glaubt, sein wahres Ich entdeckt zu haben, obwohl nur eine Faser seines Wesens aufblitzt. Manches davon aber ist fest in seinem Wesen verankert und unmöglich ist es ihm, dies von sich zu streifen. Man wird diesen Wesenszug niemals verlieren, immer wird er vorhanden sein. Aber gleich dem Jahresring eines Baumes wandert er still nach innen, beschützt und gedämpft von neuen Ringen, Erfahrungen, Erkenntnissen. Ich selbst kenne Menschen meines Alters, denen kaum ein freundliches Wort über die Lippen kommt. Aber es sind gute Menschen, hilfsbereite und ehrliche Menschen. Verstehen Sie, was ich damit sagen will? Die Höflichkeit ist allererstes Entscheidungskriterium, ob gut oder schlecht. Und doch ist sie so nichtssagend, denn gleich einem Werkzeug kann man sie anwenden, kann unter hunderten von Instrumentarien wählen und wird immer eines finden, welches eine Tür öffnet, hinter der man mit einem Lächeln erwartet wird und durch die man maskiert tritt. Nichtssagend ist die Höflichkeit, denn zunutzen habe ich sie mir gemacht, Schild und Schlüssel war sie für mich, nichts erschien mir je einfacher und anspruchsloser im Leben. Jedermann wurde höflich von mir gegrüßt, ein Bitte und Danke kam mir leicht über die Lippen und galt es, eine Tür aufzuhalten oder jemandem zu einem nichtigen Anlaß zu gratulieren, so war ich stets zur Stelle. Weder Alter noch Geschlecht, weder Herkunft noch Stellung, weder Sympathie noch Aversion waren für mich entscheidend.”
Schwer atmend lehnte er sich zurück, nahm einen Schluck Bier und ließ seinen Blick suchend durch das Café gleiten. Er verschluckte ein bitteres Lachen, dann sah er mich ernst an und erzählte mit ruhiger Stimme weiter.

”Schlecht bin ich und Böse. Ja, in mir ist eine Gemeinheit vorhanden, die mich in der Nacht oft erschreckt hochfahren läßt. Wenn ich so auf meine Leben zurückblicke, merke ich, daß es nicht glücklich und nicht unglücklich war. Es war irgendwie … nichts. Es war mir nicht tiefe Trauer und war mir nicht helle Freude. Gleichgültig und kalt bin ich allem entgegengetreten, ohne Empfindung. Nur die Farben schwarz und weiß hat die Welt für mich besessen und oft wunderte ich mich, daß sich die Menschen an Rot und Grün erfreuen können. So verzweifelt ich mich auch mühte, ich verstand es nicht, vermochte nicht, solche Farben zu sehen. Schon in der Kindheit litt ich darunter, beneidete die anderen und begann sie dafür zu hassen. In der Kindheit wurzelt der Ursprung allem Schlechten in mir und je mehr sich mein Leben dahinzog, desto dunkler war die Nahrung, die ich zu mir nahm. Ein schlechter Mensch bin ich, ein Mensch, dessen Gleichgültigkeit und Orientierungslosigkeit das Böse genährt hat und dessen Dummheit es großzog. Als Kind schon erfreute ich mich hinter der Maske der Trauer am Leid der anderen. Und wenn ich meinen Teil dazu beitragen konnte, so tat ich es ohne mit der Wimper zu zucken. In meinen Jugendjahren wiegelte ich unzählige Freunde gegeneinander auf, wußte oft mit dem rechten Wort eine Liebesbeziehung zu brechen oder gab den Lehrern an der Schule versteckte Hinweise, die schulische Untaten meiner Mitschüler verrieten. Dabei trieb ich es einmal so arg, daß ein guter, strebsamer Kamerad der Schule verwiesen wurde. Und ohne Reue, ja, mit dem unglaublichen Glücksgefühl, etwas geschaffen zu haben, sah ich ihm nach. Niemals entdeckte jemand, daß ich dahinter steckte, das ich Fäden spann, über die andere stolperten, zu gut war mir jedermann ob meiner Freundlichkeit gesinnt. War jemand trüben Gedankens, sprach ich ihm aufmunternd zu. Ich tat dies so, daß jeder es vernehmen konnte und erlangte dadurch den Ruf eines hilfsbereiten, einfühlsamen Menschen. Und natürlich kam mir auch zugute, daß ich mich keiner Gruppenbildung unterwarf. Stets war ich der Neutrale in den Augen der anderen. Sie dachten wohl alle, ich würde über solchen Dingen stehen, -ha-, unter ihnen stand ich und lauschte aufmerksam.

Ich erlernte eine Beruf und entdeckte zu meinem großen Erstaunen, daß es noch leichter war, Erwachsene zu täuschen als Kinder. Gut, ich hatte gelernt, doch hatten dies die anderen wohl auch. Aber hier war mir die Eitelkeit ein wunderbarer Helfer. Sie ist den Menschen ein wunder Punkt, eine Achillesferse, die es alleine schon zu streifen genügt, auf das sie sich schmerzvoll winden. Nun, ich war von einer Falschheit und Durchtriebenheit erfüllt, die mich wärmte. Es war das einzige in meinem Leben, daß mir Freude spendete und Genugtuung. Gütig und herzlich waren meine Eltern zu ihrem einzigen Kind, eine Güte, die ich nicht ertragen konnte. Mit zwanzig zog von meinem Elternhaus fort und bis heute habe ich sie nie wieder gesehen. Das erstaunt Sie, mein Herr? Mir war es große Erleichterung, denn unverstanden von ihnen taumelte ich durch meine Kindheit. Und namenlos lebten sie in der Jugendzeit an meiner Seite. Auch für so manchen Streit im Elternhaus zeichnete ich verantwortlich und glückserfüllt saß ich in meinem Zimmer und lauschte an der Tür, wenn sich meine Eltern in der Küche mit bösen, beleidigenden Worten bewarfen. Dies war mir, wie erwähnt, die einzige Freude im Leben. Hatte ich einen Streit gezündet, in dessen Feuer sich andere wälzten, wärmte ich mich zufrieden daran und betrachtete es wie ein von mir erschaffenes Kunstwerk mit glückstrahlenden Augen. Oft habe ich über diese Freude nachgedacht und bin über die Jahre hinweg zu der Meinung gelangt, daß es eine Art stiller Machtrausch war, dem ich mich unterworfen hatte, ein Machtrausch, der meiner Unzufriedenheit, meiner Unfähigkeit zur reinen Freude entsprang. Denn keinen persönlichen Vorteil zog ich aus all diesen Unstimmigkeiten. So durchlebte ich Kindheit und Jugend, zog in die Welt der Erwachsenen und trieb mein Spiel mit einem Lustgefühl, nach dem ich wahrhaft süchtig war. Die Schlechtigkeit war mir Leitfaden meines Lebens und mochte sich auch alles um mich verändern, so blieb sie starr und von ihr geleitet trat ich unverwundbar von einer Epoche meines Lebens zur nächsten. Natürlich ahnte ich schon in Kinderjahren, das meine Neigung nicht etwas war, mit dem ich prahlen konnte, wußte es in der Jugend vortrefflich zu verstecken und spielte es ruhig und abgeklärt in späteren Jahren. Es war Machtrausch und Rache an der Glückseligkeit der Menschen. Entsetzt schlug ich die Hände zusammen, wenn ich sah, an was allem sie sich erfreuen konnten. An Blumen, die am nächsten Morgen verblüht waren, an immerwiederkehrenden öden Sonnenuntergängen, an tristen Bäumen und nervendem Kindergelächter. Ein Hund, der sich lästig zu ihren Füßen trollt oder am Mond, der tot am Himmel hängt. Ich verstand es nicht und wünschte es doch so sehr. Und neidvoll trieb ich es immer bunter, ja, es gab Zeiten, da war ich regelrecht besessen und kein Tag verging, an dem ich nicht mein Spiel getrieben hätte. Und doch wucherte unaufhaltsam die Verbitterung in mir. Und je größer sie wurde, desto mehr verlangte ich wieder nach Macht und Rache. Welch Teufelskreis! Niemals empfand ich Reue oder schleppte mich mit einem schlechtem Gewissen durch diese Welt. So lebte ich dahin und dachte, niemals meine Freude an diesem Treiben und auch die schwach lodernde Flamme der Verbitterung zu verlieren. Verbitterung und hohle Freude, -ha-, wie Bruder und Schwester erscheinen sie mir, denn an dem Wichtigsten eines jeden Menschen Leben hängen sie und gleich einer Waagschale spielen sie Hand in Hand mit reiner Freude und tiefer Trauer. Aber damals dachte ich noch, bis ans Ende meiner Tage nichts von meiner Freude an diesem Spiel zu verlieren, zu weit thronte sie über der Verbitterung, die mich nur selten in der Anonymität der Nacht unliebsam überraschen konnte. Und da hegte ich im Stillen so manchen Zweifel, den ich aber sogleich heftig von mir stieß. Ja, so dachte ich, bis ich … bis ich meine Frau kennenlernte. Und zum ersten Mal verfiel ich einem Menschen in Liebe, wünschte ihm nichts Böses und spürte die Kraft und das Verlangen, zu beschützen. Mein Gott, wie oft habe ich tausende von Kreisen in meinem Zimmer gezeichnet, bin auf und abgegangen, um dieses unbekannte Gefühl zu verstehen. Ein Blick in die Augen dieses Mädchens und ich fürchtete, auf das Atmen zu vergessen. Fünfundzwanzig Jahre alt war ich und meinte damals, daß meine Zeit ihrem Ende entgegenlief, wie auf einer schiefen Ebene, nichts mehr, über das ich stolpern konnte. Und dann kam sie, mein Engel, und schenkte mir ein Herz, daß die ganze Welt umschloß.”

Er verstummte für einen Moment und ich sah, daß in seinen Augenwinkeln stumme Tränen zu glänzen begannen. Er schluchzte kurz, dann erlangte er wieder seine Fassung und fuhr tonlos fort.
”Sie hat mir aufgezeigt, daß ich krank war, einer Manie verfallen, die mich das Leben verkennen ließ. In einem völlig anderen Licht sah ich mich, in einem Spiegel, aus dem mir mein Gesicht nicht mehr entgegenlachte, sondern zu einer Fratze entstellt war. Niemals erzählte ich ihr von meiner Häßlichkeit, niemals legte ich sie offen. Ich weiß nicht, wie es mir gelang, dies solange zu verheimlichen aber sie merkte nichts davon, zumindest in den ersten Jahren nicht. Ich muß gestehen, daß ich auch vorsichtiger wurde, meine Umtriebe reduzierte, ja, wenig Gefallen in dieser Zeit daran fand. Denn war meine Lust von etwas anderem gefangen, wollte ich, der niemals zuvor eine Freundin hatte, sie in diesem Neuen ausleben, nirgendwo anders vergeuden. Wir beide liebten uns und es lief so, wie es wohl immer läuft: wir heirateten. Unser einziges Kind, meine Tochter Anna, kam ein Jahr nach unserer Hochzeit zur Welt und bis dahin vergingen wir liebend in eitler Wonne. Doch kurz nach der Geburt klang die Lust an meiner Familie ab, nur Gott weiß warum. Vielleicht fühlte ich mich eingeengt, vielleicht sehnte ich mich wieder nach neuen alten Freuden. Lange hatte diese Lust geruht und fast schon vergessen glaubte ich sie, da schoß sie eines Tages wie ein Vulkan wieder in mich. Und alles Versäumte wollte ich mit einem Schlag nachholen. Aber einen Unterschied gab es: erschien ich früher in den Augen anderer immer als Unbeteiligter, so gab ich mir inmitten meiner Familie keine Mühe mehr, mich zu verstecken. Direkt drangen alle Gemeinheiten an meine Frau und meine Anna. Es war eine schreckliche Zeit. Denn die Lust an meinem Spiel brannte wieder in mir, heftiger als jemals zuvor. Doch schuf meine ungebrochene Liebe zu meiner Familie einen Gegner, der sich ihr heftig widersetzte. Und aufgerieben wurde ich von diesen Kämpfen, überfielen mich Nervosität und Unbehagen, ja, ein Gewissen trug ich plötzlich mit mir, das schwerlastend mich immer bedrückter die Tage beginnen ließ. Und doch wollte ich es spielen, mußte es spielen.

Aus einem inneren Zwang heraus, der lange geschlummert hatte und nun wieder hellwach war. Oh Gott, wie weh tat ich meiner Frau, wie schmerzte ich meiner Anna. Ja, es ist unglaublich, aber selbst mein Kind konnte ich vor diesem Zwang nicht verschonen. Schlimmes tat ich ihnen an, leidgetränkte Nächte durchlebten sie, reißende Tränenflüsse schossen aus den Fenstern und Türen unseres Heimes und immer verzweifelter wurde ihr Wehklagen. Was ich ihnen angetan habe, kann ich Ihnen nicht erzählen. Aber glauben Sie mir, es gibt kaum etwas, daß diese Untaten an Bösartigkeit und Gemeinheit übertrifft. Nie habe ich Hand an sie gelegt, nein, daß erschien mir immer als die unterste aller Stufen. Ich marterte ihren Geist, tobte mich in ihren Seelen aus, verstehen Sie, ich trampelte durch ihr heiliges Land, brachte Sturm und hinterließ Verwüstung. Und mit jedem Stück, das in ihnen brach, wurde auch mir etwas entrissen. Ich kann es nicht erklären, bin unfähig, dieses Gefühl in Worte zu fassen. Ich spürte nur, daß ich einer großen Leere entgegenschritt, wie ich sie niemals vermutet hätte. Diese Liebe zu meiner Familie und die wiedererwachte Lust, vor der selbst – oder gerade – meine Geliebten nicht verschont blieben, dies war mir ein neuer Teufelskreis. Es war die schlimmste Zeit meines Lebens, ach Gott, wenn ich daran denken, läuft es mir eisig den Rücken herab und überfällt mich tiefe Furcht. Wissen Sie, es lief immer nach demselben Schema ab. Zuerst verspürte ich die Lust. Immer größer wurde sie, immer mehr wuchs sie. Dann begann ich mich ihrer zu erwehren, versuchte, standhaft zu bleiben, boten mir dicke Mauern, mit denen ich die Lust umschloß, Schutz und Hilfe. Doch immer wilder tobte der Kampf in mir und so sehr ich mich auch mühte, stets wurde ich in einem schwachen Moment von der Lust überwältigt. Und dann genoß ich das Spiel, mein Gott, niemals empfand ich mehr Freude als in jenen Augenblicken, in denen es meine Familie traf. Und wissen Sie weshalb? Weil ich zum ersten Mal darum kämpfen mußte, Schweiß und Blut vergoß, ja, insgeheim diesen Augenblick ersehnte. Der Wert dieses Spieles war für mich ins Unermeßliche gestiegen. Ach, im Moment dieses Rausches vergaß ich auf alles, wahrhaft auf alles. Gedankenlos gab ich mich hin, ließ mich fallen und fürchtete schon, vor Freude in tausend Teile zu zerspringen. Doch dann, wenn diese Lust gestillt war und die Kampftöne langsam verklangen, ja dann wurde ich von großer Scham und einer eisigen Traurigkeit heimgesucht, an der ich fast erstickte. Mit gramgebeugtem Körper durchschritt ich schweigend die nächsten Tage und kaum meinen Kopf zu heben wagte ich. Bis das Gefühl wieder zu leben begann. Ich wußte, daß es nicht richtig war, entschuldigen Sie diesen Ausdruck, aber ich finde im Moment keinen anderen dafür. Zum ersten Mal in meinem Leben wußte ich es davor und wußte es danach, aber im Moment selbst, mein Gott, im Moment selbst erkannte ich, daß es nicht ich war und doch war es ich. Verstehen sie, ich wollte nicht wahrhaben, daß es ein Teil von mir war, der dies geschehen ließ. Was immer ich mir auch vornahm, wie sehr ich mich auch quälte, ich war im Augenblick gegen dieses Gefühl machtlos und war doch ich selbst! Ist es mir früher Freude gewesen, die gleich einem hohen Ton wundervoll in mir ausklang, so war es mir plötzlich tiefe Scham und ich flüchtete in einen Berg von Lügen. Weil ich nicht stolz darauf war, weil die Wärme sich verändert hatte, weil ihr eine Kraft zugrunde lag, die mein Leben zerstörte und das meiner Lieben angriff und zersetzte und nicht jenes meiner Freunde und Bekannten, das mich nur striff, aber nicht berührte.”

Er verharrte für einen Moment still, dann nahm er den Wodka, leerte ihn in das volle Glas Bier und trank es auf einen Schluck leer.
Tief ergriffen war ich von seinen Worten und mit bewegter Stimme fragte ich ihn: ”Sie sprechen immer in der Vergangenheit. Hat sich etwas geändert?”
Er lächelte mir milde zu.
”Ja, mein Herr, vieles hat sich verändert. Doch habe ich erst gestern Abend von dieser Veränderung erfahren. Aber lassen Sie mich in meiner Erzählung fortfahren. Wie gesagt, litt ich schwer unter der Demütigung, die ich meiner Familie zuteil werden ließ und, ja, man kann es durchaus so bezeichnen, dem Verrat, den ich an ihr übte. Ich mußte und wollte zu einem Ende kommen, wollte, daß es aufhört und niemals wiederkehrt. Denn meine Frau und meine kleine süße Anna verfielen zusehends. Schweigsam wurden sie und mit traurigen Augen wandelten diese einst so lebensfrohen Naturen verwirrt umher. Und doch kam es ihnen niemals in den Sinn, mich zu verlassen, selbst das Ende auszusprechen. Nun gut, ich überlegte lange, von welcher Seite ich mir Hilfe erwarten konnte. Ich besuchte Gruppentherapien und Einzeltherapien, vergrub mich in Literatur und besuchte jeden Vortrag, von dem ich mir Hilfe und Erkenntnis erhoffte. Ich ließ nichts unversucht. Aber niemand fand sich, der mir helfen konnte. Alle versprachen sie und boten doch nichts. Großer Gott, welch kalte Tage dies waren. Und dann tat ich etwas, daß mir als letzter Ausweg erschien. Ich ging zur Polizei und erstattete Selbstanzeige. Ja, Sie werden sich jetzt sicher wundern. Aber so war es. Ich ging zur Polizei und erstattete Anzeige gegen meine Person. Ich bekannte mich schuldig und waren sie anfangs etwas verwirrt, so nahmen sie meine Schuld doch an. Und wissen Sie, was dann passierte? Drei Monate später, ich wiederhole, drei Monate später erhielt ich eine Gerichtsvorladung. Drei Monate, in denen ich, meine baldige Erlösung vor Augen, quälte, drei Monate, in denen ich wie niemals zuvor gewütet habe und mir die Anzeige Rechtfertigung für meine Taten war. Vor Gericht bekannte ich mich abermals schuldig und schnell wurde ich abgeurteilt. Man überwies mich in eine geschlossene psychiatrische Anstalt, in der ich sechs Monate verweilte. Das ganze geschah vor, warten Sie einen Augenblick, hmm … nun ja, vor etwa neun Monaten, im Spätsommer des letzten Jahres. Ja, sechs Monate saß ich in dieser Anstalt, bekam in dieser Zeit weder meine Frau noch meine Anna zu Gesicht. Dies war Teil meiner Therapie und wenn ich sie zwar nicht als falsch erachtete, so doch als ein wenig, nun ja, zu extrem, zu streng. Verstehen Sie, ich tat es meiner Familie wegen und nur sie waren es, die mir Streicheleinheiten geben und die dunklen Tage des Nagens und Zweifels als sinnvoll erscheinen lassen konnten. Stattdessen aber wurde ich mit Tabletten und leeren Worten krankgeheilt. Schon bald erkannte ich, daß ich auch hier keine Hilfe erwarten konnte und so schnell wie möglich wollte ich diesen Ort verlassen. Und wieder waren mir Höflichkeit und Lächeln magischer Schlüssel zur Freiheit. Einsicht und Erläuterung täuschte ich vor, höflich lächelnd, ja, wahrhaft, es genügte. Aber ich hielt es an diesem Ort nicht mehr aus. Denn Fragen habe ich gestellt und Antworten erhalten, deren Frage ich nicht kannte. Zu dem Aufenthalt in dieser Klinik wurde ich länger als sechs Monate verurteilt, aber Dank meines Schlüssels war nach einem halben Jahr auch dieser Versuch zu Ende gegangen. Und wissen Sie, worin der Irrsinn hierbei lag? Ich betrat die Anstalt und man sagte mir, ich sei schlecht. Ich verließ die Anstalt ein halbes Jahr später und man sagte mir, ich sei gut. Und so ich stand mit meinem Koffer vor den geschlossenen Türen dieser Anstalt, blickte auf die leere Straße, die vor mir lag und nach Freiheit roch und wußte doch, daß ich kein anderer war als jener, der einst durch diese Türen schritt. Einige Monate zuvor hatten wir das Haus am Ende der Straße erworben und viele Hoffnungen flossen in einen Neubeginn. Ich kam nach Hause und waren die ersten Tage voller Freude, so erkannten wir doch schon nach kurzer Zeit, daß sich nichts verändert hatte. Meine Frau spürte meine Liebe und klammerte sich voller Hoffnung an sie und unglaublich erschien und erscheint mir ihre Kraft, an meiner Seite verharrt zu sein. Etwa drei Monate bin ich nun auf, -ha-, freiem Fuß. Aber, mein Freund, ich sage Ihnen, daß sich nur der Wohnort geändert hat, das Leben ist dasselbe geblieben. Tja, das ist meine Geschichte, nicht mehr und nicht weniger. Niemand, der dies vermuten würde.”
”Und was meinen Sie mit dem Ende” flüsterte ich.
”Mit dem Ende? Nun, gestern habe ich eine Entscheidung getroffen. Aber bei aller Freundschaft, ich möchte hierzu nichts verraten. Doch können Sie sicher sein, daß es der rechte Weg ist. Nichts anderes mehr erscheint mir als sinnvoll. Nach Gerechtigkeit und Erlösung auf jede Art suchte ich, doch fand ich nur Recht und Betäubung. Nein, so verzweifelt werde ich nicht mehr durch diese Welt wanken, nein, -ha-, niemals wieder. Gerechtigkeit gibt es hier nicht, wie denn auch? Aber den Weg, der mich zur Gerechtigkeit führt, diesen Weg werde ich alleine begehen. Denn an seinem Ende erhoffe ich, meine Erlösung zu finden. Niemand soll mich begleiten, niemand darf mich begleiten. Und nun, mein Freund, dessen Namen ich nicht einmal kenne, möchte ich mich bei Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit bedanken und mich von Ihnen verabschieden.”
Er stand auf und reichte mir seine Hand. Ergriffen war ich von seinen Worten und mechanisch streckte ich ihm meine Hand entgegen, die er fest umschloß.
Er nickte mir ernst zu, legte einen Geldschein auf den Tisch und verließ das Lokal. Ich sah ihn niemals wieder.

Meine nächsten Tage verbrachte ich in tiefem Sinnen über diesen Mann und seine Geschichte. Bedrückt war ich und die blauen Sommertage schienen viel von ihrer Farbe und Fröhlichkeit verloren zu haben. Schwer tat ich mir zu verstehen und versuchte es dennoch stets aufs Neue. Aber immer wieder erschien das Gesicht jenes Mannes vor mir, verzweifelt und traurig. Und von Schwermut war ich erfüllt, wenn ich in diesen Momenten an seine Familie dachte. Und so vergaß ich nach und nach, mich in seiner Geschichte zu vergraben, sondern trauerte im Stillen um eine Familie. Doch auch das sollte ich erst viel später erkennen. Eine Woche, nachdem ich mit dem Herren zusammentraf, dessen Name mir bis heute nicht bekannt ist, fand ich mich wieder wie gewohnt zur Mittagszeit in dem Café ein. Als ich durch die Tür trat, lief mir Fräulein Barbara aufgeregt entgegen und hielt mir ein blaues Kuvert vor mein Gesicht. ”Der Brief ist für Sie” rief sie mit heller Stimme. ”Von dem Herrn, mit dem Sie einige Male beisammen gesessen sind. Sie haben doch schon davon gehört, oder?”
”Wovon gehört” erwiderte ich verwundert.
”Von dem Herrn” antwortete sie, ” von dem Herrn, der einige Male bei Ihnen am Tisch saß. Er hat die Stadt verlassen. Für immer, wie geflüstert wird. Obwohl diese Familie kaum jemand kennt, so ist es doch seit Tagen schon das Gespräch. Mein Gott, was an den Tisch gemutmaßt und erzählt wird, unglaublich. Die wunderlichsten Geschichten kommen einem zu Ohren. Hier, nehmen Sie schon.”
Mit einem dunklen Gefühl der Vorahnung ergriff ich den Brief und setzte mich. Nachdem ich meine Bestellung aufgegeben hatte, öffnete ich das Kuvert und entnahm ihm einen halbseitig beschriebenen Bogen Papier. Aufmerksam begann ich zu lesen.

”Mein lieber Freund, verzeihen Sie mir die wenigen Zeilen, die ich Ihnen zukommen lasse. Aber es erscheint mir als unerläßlich, daß Sie nun um jenes Ende, von dem ich sprach, wissen. Mit Ende meinte ich schlicht und einfach meinen Fortgang von dieser Stadt, von meiner Familie. Nicht mehr fähig war ich, sie noch länger zu quälen, zugrunde daran wären wir alle drei gegangen. Meine kleine Anna, mein kleines Leben, erwähnte ich in meiner Erzählung, daß sie für mich die Erfüllung ist, daß ich erst durch sie vom Leben erfuhr, durch ihren ersten Schrei zu hören verstand? Mein Gott, kaum ein Wort über sie habe ich wohl verloren, denn mit zuviel Schmerz ist es verbunden. Ich kann mich jetzt in Gedanken an dieses kleine Bündel Mensch meiner Tränen nicht mehr erwehren und viele Abende und Nächte werden folgen, in denen sie meine Einsamkeit begleiten. Still habe ich sie werden lassen und sie ihres süßen Lachens beraubt. Ein Goldmund, aus dem immer vergnügte Laute drangen war sie, mit strahlenden Augen die Welt betrachtend und immerzu nach allem tastend. Und wohin habe ich sie geführt? Kaum sechs Jahre alt ist sie und sitzt stumm und mit verlorenem Blick auf ihrem Bett, verweigert ihr Lachen und fürchtet die Nähe der Menschen. Verstehen Sie nun, was ich angerichtet habe? Oft frage ich mich, ob sie sich im Stillen wundert, wie die Menschen es vollbringen, zu lachen. Ich fürchte die Antwort auf diese Frage und niemals möchte ich sie erfahren. Nein, nicht länger an ihrer Seite darf ich bleiben, ja, mein Gehen erscheint mir als ihr letzter Fluchtweg. Ich sage Ihnen, es brennt in dieser Stadt und es brennt auf der Welt. Feuer bin ich und niemand ist mich zu löschen imstande, niemand außer mir selbst. Erfüllt von Heimweh ziehe ich nun meiner Wege, in ferne Länder und fremde Städte. Wissen Sie, was Heimweh bedeutet? Wieviel Liebe es beinhaltet? Mein Gott, selbst die Kraft zu sterben raubt mir diese brennende Wehmut, oh Gott, leer bin ich und doch von solch einer Liebe erfüllt … und niemals wieder glaube ich lachen zu können. Nur die Hoffnung, daß meine Familie wieder lacht, nur diese Hoffnung treibt meine Füße unermüdlich weiter fremdwärts. Es ist nur noch dieser Wunsch, der mich beseelt. Als Buße für mein Wesens erscheint es mir, und doch tue ich es nicht aus diesem Grund, sondern einzig der Liebe zu meiner Frau und meiner kleinen Anna wegen. Wenn Sie diese Zeilen lesen, bin ich längst nicht mehr im Lande. Auch wo ich mich befinde, kann ich Ihnen nicht sagen. Weiß denn ein Irrender, welchen Weg er wankt? Gott schütze meine Anna.”

Langsam ließ ich den Brief in meine Tasche gleiten. Das Essen war an diesem Tag wohl Stunden vor mir gestanden, jedoch bemerkte ich es nicht. Den ganzen nachmittag bin ich in dem Café gesessen und war in tiefen Gedanken versunken. Lange schon war der Abend über die Stadt hereingebrochen, als ich mich heimwärts begab, meine Hände in den Taschen und den Brief fest umklammernd. Und ich glaube mich zu erinnern, daß mir auf dem Heimweg eine Träne über die Wange lief.

Der prächtige Sommer verging und schuf Platz für den schon ungeduldig wartenden Herbst. Es war eine schöne, friedliche Zeit, die ich in I. verbracht hatte und gerne denke ich an diese Tage zurück. Viele Jahre sind seit diesem Sommer vergangen und vieles ist seitdem geschehen, gekommen und vergangen. Gutes wie Schlechtes, Heiteres wie Trauriges. Stolz bin ich, das es mir auf wunderliche Weise gelang, mein fröhliches Wesen über die Jahre hinweg zu retten. Doch manchmal, wenn ich in einer späten Abendstunde auf meinem Heimweg von Heiterkeit erfüllt nach den Sternen sehe und verzückt meine, daß meine Arme sie fassen können, wenn mir der Mond silbern zulächelt und die dunklen Schatten der Bäume sich sanft zu meinen Füßen wiegen, wenn mir die Welt so rein und vollkommen erscheint, flammt plötzlich die Erinnerung an jenen Mann und an Anna wie eine Sternschnuppe am Himmel auf und läßt das Lächeln auf meinen Lippen ersterben. Und dann schelte ich mich einen Narren, daß ich für einen Moment dachte, die Welt sei vollkommen.